Mülheim. . Forscher haben vier typische Biografie-Verläufe ausgemacht, die in die Altersarmut führen. Wir stellen anonymisierte Mülheimer Fälle vor.

  • Vier typische Biografie-Verläufe führen in Westdeutschland in die Altersarmut, sagen Forscher
  • Betroffen sind Frauen, Selbstständige, Migranten und Menschen mit vielen Schicksalsschlägen
  • Wir stellen die Studie vor – angereichert mit anonymisierten Fällen des Mülheimer Sozialamtes

Arm im Alter – muss sich jeder davor sorgen? Prof. Dr. Ute Klammer und Dr. Antonio Brettschneider von der Universität Duisburg-Essen haben Interviews mit rund 50 betroffenen Senioren geführt und Statistiken zur Grundsicherung im Alter ausgewertet – jenen Sozialleistungen nach SGB XII, die kleine Renten aufstocken. Im Interview spricht Prof. Ute Klammer über die verschiedenen Lebenswege und Risiken, die in die Altersarmut führen können.

Frage: Was war das Ziel Ihrer Studie?

Ute Klammer: Wir wollten der Frage nachgehen, welche Biografien dazu führen, dass Menschen im Alter arm sind. Das Alterssicherungssystem ist ja ein lebensbegleitendes System. Wenn wir Reformvorstellungen dafür entwickeln wollen, dann müssen wir sehen: Wo sind eigentlich die Lücken? Warum sind bestimmte Menschen nicht gut gesichert? Und wo sind Wege, die durch unser Rentensicherungssystem einfach nicht abgefangen werden?

Frage: Was hat dazu geführt, dass die Altersarmut gestiegen ist?

Ute Klammer: Es gibt seit Mitte der 90er Jahre viel mehr Niedriglöhne. Das heißt: Die Menschen haben gearbeitet, aber haben einfach zu wenig Entgeltpunkte gesammelt, weil sie zu niedrige Löhne hatten, um ordentlich vorzusorgen. Es gab auch viel mehr Selbstständigkeit – und die Selbstständigen sind bei uns oft sehr schlecht gesichert im Alterssicherungssystem. Wir haben auch mehr Migration. Personen, die später zuwandern ins Land, haben oft viel zu geringe Versicherungsphasen.

Es kommen auch noch weitere Phänomene dazu, zum Beispiel die Veränderung der Familienform. Früher waren Frauen sehr häufig zwar nicht gut eigenständig gesichert, hatten aber meist eine solide Witwenrente über ihre Ehemänner. Wenn aber immer mehr Ehen geschieden werden oder Menschen nicht mehr in der Form der Ehe leben, dann fällt auch das weg. Dort entstehen neue Lücken.

Frage: Welche weiteren Risiken haben Sie festgestellt?

Ute Klammer: Krankheit ist einer der größten Risikofaktoren. Es gibt aber auch Leute, die hätten genug vorsorgen können, waren sich aber der Bedeutung von regelmäßigem Sparen vielleicht nicht bewusst. Ich denke auch, dass man gerade Frauen sehr stark noch darüber aufklären muss, was für langfristige Folgen Erwerbsausstiege oder Arbeitszeitreduzierungen haben. Man muss allerdings differenzieren: Bei Frauen in Westdeutschland verbessern sich die eigenen Alterssicherungsansprüche tendenziell durch die gestiegene Erwerbstätigkeit.

Frage: Welche Rolle spielt Bildung?

Ute Klammer: Bildung spielt eine große Rolle. In unserer Gesellschaft zahlt sie sich erheblich aus. Wenn man erfolgreich mit einem hohen Abschluss die Schule oder das Studium beendet, ist die Rendite sogar gewachsen: Das Lebenserwerbseinkommen ist in diesem Fall höher. Während man zu Zeiten der Großeltern vielleicht auch über eine Lehre noch gut an Führungspositionen gekommen ist, lohnt sich Bildung heute noch mehr.

Frage: In Zukunft wird die Altersarmut weiter steigen. Warum?

Ute Klammer: Lebensläufe sind zunehmend von Umbrüchen und Übergängen geprägt. Viele, die jetzt in die Rente kommen, haben nicht mehr durchgängige Erwerbsbiografien. Die Tendenz ist steigend.

Prof. Dr. Ute Klammer ist Forscherin an der Universität Duisburg-Essen und forschte lange zum Thema
Prof. Dr. Ute Klammer ist Forscherin an der Universität Duisburg-Essen und forschte lange zum Thema © Arnd Drifte

Frage: In Ihrer Studie nennen Sie vier Biografie-Typen, die in Westdeutschland besonders häufig von Altersarmut betroffen sind.

Ute Klammer: Dazu gehören familienorientierte Frauen, die sich stark auf das Modell eines männlichen Ernährers eingelassen haben, ehemalige Selbstständige, Zuwanderer und eine weitere Gruppe, die wir als „komplex Diskontinuierliche“ bezeichnet haben. Das ist eine Gruppe, bei der viele verschiedene Faktoren zusammengekommen sind, die dazu geführt haben, dass die Menschen wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hatten.

Frage: Eine weitere Gruppe betrifft vor allem ostdeutsche Rentner.

Ute Klammer: Genau. Das ist die Generation, in der viele arbeitslos wurden, als der Arbeitsmarkt im Osten nach der Wiedervereinigung zusammenbrach. Viele haben sich teilweise schon 20 Jahre prekär durchgeschlagen, wenn sie nicht wieder richtig Fuß fassen konnten.


Die vier zentralen Biografie-Typen

Im Folgenden stellen wir die vier zentralen Biografie-Typen vor, die Ute Klammer und Antonio Brettschneider in ihrem Forschungsprojekt „Lebenswege in die Altersarmut“ für Westdeutschland identifiziert haben.
Angereichert wurden die durch reale – aber anonymisierte – Fälle des Mülheimer Sozialamtes.

1. Gruppe: Familienorientierte Frauen

Sie haben sich Jahre lang um Haushalt und Erziehung gekümmert. Doch wenn der Ehemann als Ernährer ausfällt, können die familienorientierten Frauen selten wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Sie haben sich Jahre lang um Haushalt und Erziehung gekümmert. Doch wenn der Ehemann als Ernährer ausfällt, können die familienorientierten Frauen selten wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. © Heiko Sakurai

Frau D. ist 73 Jahre alt und verwitwet. Zwei Kinder hat sie groß gezogen, sich daheim um den Haushalt gekümmert. Sie war nie untätig – schließlich gab es für die Hausfrau immer viel zu tun. Seit ihr Mann verstorben ist, bekommt sie eine kleine Witwenrente. Monatlich sind das 689 Euro. Eine eigene Rente erhält sie nicht, da sie sich bei ihrer Hochzeit die Rentenansprüche hat auszahlen lassen und danach nie wieder versicherungspflichtig gearbeitet hat. Nach dem Tod ihres Mannes fand sie einen neuen Lebensgefährten, mit dem sie zusammengezogen ist. Doch vor kurzem ist die Beziehung zerbrochen. Jetzt wohnt sie allein in der Wohnung. Ihren Lebensunterhalt aber kann sie nicht selbst sicherstellen.

Ein Rollenwechsel birgt Probleme

Frau D. gehört zu der derzeit größten Gruppen der altersarmen Rentner, den „familienorientierten Frauen“, wie die Forscher sie nennen. Hierzu zählen Frauen, die „sich stark auf das Männliche-Ernährer-Modell eingelassen haben und sich überwiegend der Familienarbeit gewidmet haben“, erklärt Prof. Ute Klammer.

Im herkömmlichen System sind diese Frauen gut gesichert – solange die Ehe funktioniert und der Mann seine Arbeitsstelle behält. „Es kann aber das Problem auftauchen, dass der Mann als Ernährer ausfällt, wenn er zum Beispiel Niedriglohn bekommt oder arbeitslos wird. Dann entstehen Situationen, in denen die Frauen plötzlich arbeiten müssen, aber oft nicht mehr richtig in den Arbeitsmarkt reinkommen.“

Auch Scheidung ist ein großes Problem, sagt Klammer: „Die Frau kriegt zwar für die Ehezeit die Hälfte der Rentenansprüche – aber während die Männer vielleicht eine schöne Karriere gemacht haben, die sie unbeirrt fortsetzen können, kommen die Frauen danach nicht wieder richtig in den Arbeitsmarkt. Diese Jahre nach der Scheidung bis zur Rente fehlen ihnen und sie landen in der Altersarmut.“ Das sei ein gängiges Muster. „Von alleinstehenden Frauen im Alter stehen diejenigen am schlechtesten da, die einen Rollenwechsel hinter sich haben: Zuerst waren sie Hausfrau und Mutter, dann mussten sie sich plötzlich selbst versorgen.“

2. Gruppe: Neue Selbstständige

Sie waren ihr eigener Chef, doch trotz vieler Arbeitsstunden reichte das Geld kaum aus. Als Selbstständige zahlten sie zudem nicht in die gesetzliche Rentenkasse ein.
Sie waren ihr eigener Chef, doch trotz vieler Arbeitsstunden reichte das Geld kaum aus. Als Selbstständige zahlten sie zudem nicht in die gesetzliche Rentenkasse ein. © Heiko Sakurai

Sie haben zusammen ein kleines Unternehmen geführt, doch Herr P. (74) und seine Frau haben kaum vorgesorgt. Der 74-Jährige hat keine Rentenansprüche, denn in die gesetzliche Versicherung musste der Selbstständige nicht einzahlen. Seine Frau bekommt eine Altersrente von nur 190 Euro monatlich. Zuletzt haben die Eheleute von den wenigen Ersparnissen gelebt, die ihnen noch blieben. Herr P. hat sich einen kleinen Nebenjob gesucht. Doch krankheitsbedingt, kann er ihn jetzt nicht mehr ausüben.

Dem Handwerker B. geht es ähnlich. 77 Jahre ist er alt, bis ins hohe Alter hat er noch in seinem eigenen kleinen Betrieb gearbeitet. Den allerdings musste er nun altersbedingt aufgeben. Herr B. bekommt im Monat 560 Euro auf sein Konto. Seine Ehefrau verfügt über eine Rente von 124 Euro. Für den Lebensunterhalt der beiden reicht das nicht aus. Deshalb beziehen auch sie Leistungen vom Sozialamt. Frau B. arbeitet mit 76 Jahren noch als Reinigungskraft.

Verdienst reichte kaum für Vorsorge

Selbstständige gehören zu der zweiten großen Gruppe, die die Forschung beschreibt. Insgesamt hat die Selbstständigkeit in den letzten Jahren noch zugenommen. Sie ist durch viele Arbeitsmarktmaßnahmen sogar angeregt worden. „Man hat Menschen motiviert, wenn sie keinen Angestellten-Job gefunden haben, selbstständig zu werden. Aber sehr viele neue Selbstständigkeiten sind sehr ertragsarm. Sie reichen gerade so zum Leben – oft knapp – und es bleibt nichts für die Alterssicherung übrig“, erläutert Prof. Dr. Ute Klammer.

Bei Selbstständigen fehlt der Arbeitgeber, das heißt: Selbstständige müssten selbst noch mehr vorsorgen, um zur gleichen Rente zu kommen. „Und zusätzlich sind Selbstständige nicht pflichtversichert in unserem Rentensystem. In meinen Augen ist das eine der größten Lücken überhaupt im Moment“, so Ute Klammer.

„Diejenigen, die wir interviewt haben, standen zeitweise im Leben relativ gut dar. Doch irgendwann ist es den Berg heruntergegangen, weil sie pleite gemacht haben, weil sie krank wurden.“

3. Gruppe: Migranten

Sie sind erst im Berufstätigenalter nach Deutschland gekommen, haben oft erst spät in die Rentenkasse eingezahlt. Viele Migranten haben es zudem schwer gehabt, eine Anstellung zu finden.
Sie sind erst im Berufstätigenalter nach Deutschland gekommen, haben oft erst spät in die Rentenkasse eingezahlt. Viele Migranten haben es zudem schwer gehabt, eine Anstellung zu finden. © Heiko Sakura

Herr P. und Frau P. haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Geboren wurden die Eheleute in der Ukraine. Seit 2003 leben sie als so genannte „Spätaussiedler“ in Mülheim. Der 67-Jährige Herr P. erhält eine Altersrente von 607 Euro und seine Frau eine Rente von 403 Euro. Über die Runden kommen die beiden damit nicht.

Auch der 68-Jährige Herr Ö. und seine Frau (67) sind nicht in Deutschland geboren worden. Das türkischstämmige Paar ist 1979 eingewandert – als erste Generation der „Gastarbeiter“. Herr Ö. erhält eine Altersrente von 614 Euro. Frau Ö., die nie eine Arbeit gefunden hat, erhält keine Rente. Bis zur Erreichung der Regelaltersgrenze hat sie Leistungen des Sozialamtes bekommen. Auch jetzt reicht die Rente von Herrn Ö. für den Lebensunterhalt der beiden nicht aus.

Erst spät ins System eingezahlt

Viele Migranten, die erst spät in ihrem Leben nach Deutschland gekommen sind, haben wenig Rentenpunkte sammeln können. „Es gibt zwar innerhalb der Europäischen Union Regelungen, dass die Sozialversicherungsansprüche in verschiedenen Ländern verrechnet werden und geguckt wird, dass sich niemand schlechter steht als in einem anderen System. Aber trotzdem entstehen häufig Lücken“, erläutert Prof. Ute Klammer. Viele Zuwanderer kommen zudem nicht aus der EU, sondern stammen aus Ländern, mit denen Deutschland kein Sozialversicherungsabkommen hat.

„Wir haben ein Rentensystem, das sehr stark auf der Äquivalenz zwischen Beiträgen und Leistungen beruht – wer mehr einzahlt kriegt mehr raus. So kann man das eben kaum noch einholen, wenn man mit Mitte 40 zum Beispiel erst zuwandert“, sagt Klammer. Eine armutsvermeidende Rente aufzubauen sei in diesem Fall kaum noch möglich.

Zudem sei es für viele Migranten schwierig, in der neuen Heimat direkt eine gute Arbeit zu finden. „Deswegen haben wir eine Vielzahl von Zuwanderern, gerade auch türkischstämmige, die in diese Gruppe fallen.“

4. Gruppe: Komplex Diskontinuierliche

Krankheiten, Scheidungen, Sucht: Schwerwiegende Probleme – häufig in Kombination – haben die „komplex Diskontinuierlichen“ aus der Bahn geworfen.
Krankheiten, Scheidungen, Sucht: Schwerwiegende Probleme – häufig in Kombination – haben die „komplex Diskontinuierlichen“ aus der Bahn geworfen. © Heiko Sakurai

Manchmal spielt das Leben einzelnen Menschen hart mit. Was genau Herr M. alles erlebt hat, ist schwer zu sagen. Irgendwann aber geriet er in die Sucht. Nur ganz unregelmäßig fand er dann noch Anstellungen. 62 Jahre alt ist er heute. Er lebt allein. Lange bekam er schon Leistungen vom Sozialamt. Vor einigen Jahren wurde dann seine Erwerbsunfähigkeit festgestellt. Mittlerweile bekommt der Mülheimer eine Erwerbsunfähigkeitsrente von 590 Euro. Im gesetzlichen Punktesystem hat der 62-Jährige nur einen geringen Rentenanspruch erwirtschaften können. Dieser reicht zur Deckung des Lebensunterhalts nicht aus. Deshalb bezieht Herr M. jetzt nach SGB XII Grundsicherung.

Wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt

„Komplex diskontinuierlich“, so beschreiben die Wissenschaftler der Universität Duisburg-Essen die Gruppe, zu der auch Herr M. gehört. „Hierzu zählen wir Menschen, die oft mehrere Schicksalsschläge oder besondere Ereignisse im Leben hatten – oft auch in Kombination“, erklärt Prof. Dr. Ute Klammer.

Diese Gruppe ist die kleinste – und auch sehr heterogen. „Wir haben sie als Gruppe zusammengefasst, um zu zeigen, dass manchmal verschiedene Faktoren zusammenkommen.“ Krankheiten, Scheidungen, aber auch Verschuldung, Unfälle oder Suchtkrankheiten – wie bei Herrn M. – können dazu geführt haben, dass Menschen aus der Bahn geworfen wurden. Und dass sie von einem gewissen Punkt im Leben an keiner Arbeit mehr nachgehen konnten oder keine neue Anstellung mehr fanden.

„Teilweise waren es in unseren Interviews auch Menschen, die schon eine schwierige Kindheit hatten und schon mit gewissen Belastungen – auch persönlichen – in ihr Erwerbsleben gestartet sind“, sagt Ute Klammer. Wer einen derart schwierigen Start ins Leben hatte, habe generell wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt. „Solche Fälle lassen sich kaum auffangen in unserem System.“