Mülheim. . 2016 hat nur noch ein Fünftel der Schulabgänger in Mülheim direkt nach der zehnten Klasse eine Berufsausbildung begonnen. 36 blieben unversorgt.
- Vielen Eltern ist ein höherer Schulabschluss ihrer Kinder wichtiger als der direkte Einstieg in den Beruf
- Förderschüler schaffen es kaum, einen Ausbildungsplatz zu finden – inklusiver Unterricht bietet etwas bessere Chancen
- Positive Ergebnisse gibt es bei den Seiteneinsteigern: Anschlusslösungen für 47 von 48 Jugendlichen
Feierlich aufgemacht in Anzug und Cocktailkleid, so posieren nicht nur Abiturienten, sondern immer öfter auch Absolventen der zehnten Jahrgangsstufen oder der Berufskollegs für ihr Abschlussfoto. Welchen Weg die Jugendlichen nach der Schule einschlagen, ist eine andere Frage. In Mülheim wird dies seit zehn Jahren unter dem Dach des Bildungsbüros im Amt für Kinder, Jugend und Schule systematisch untersucht. Der jüngste Übergangsreport 2016 kam kürzlich heraus.
Der Bericht erfasst alle weiterführenden Schulen und Berufskollegs in Mülheim. Daten werden gesammelt, Lehrkräfte befragt, durchaus mit Anspruch auf Vollständigkeit. Allerdings, dies betonen die Verfasser, könnten sie nur ermitteln, was zum Schuljahresende geplant ist, nicht aber, was einzelne Jugendlichen tatsächlich nach den Sommerferien tun. Seit 2012 kann das städtische Bildungsbüro über die Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss“ zusätzliche Mitarbeiter für diese Fleißarbeit beschäftigen.
Kein Schüler soll ohne unbekanntes Ziel sein
Laut Übergangsreport 2016 gab es im Vorjahr 36 unversorgte Schulabgänger in Mülheim und 88 Jugendliche, deren Perspektive unbekannt war, zusammen 124. Verglichen mit 2013 (insgesamt 133 Abgänger), fiel diese Zahl etwas geringer aus. Hinzu kamen 103 Jugendliche, die sich während des laufenden Schuljahres 2015/2016 mit unbekanntem Anschluss verabschiedeten. Erklärtes Ziel sei, diese Zahlen auf null zu reduzieren, erklärt Brita Russack, Leiterin des Bildungsbüros: „Kein Jugendlicher soll ohne eine gute berufliche Orientierung die Schule verlassen.“
Dabei zögert sich dieser Abschied immer weiter hinaus. Nur 175 von 903 Schulabgängern, knapp 20 Prozent, haben 2016 direkt nach der zehnten Klasse eine Ausbildung begonnen. Vier Fünftel, gut 80 Prozent, gingen nach den Sommerferien weiter zur Schule, sie wechselten überwiegend in die gymnasiale Oberstufe oder an ein Berufskolleg.
Immer weniger Zehntklässler gehen in Ausbildung
Drei Jahre zuvor hatte nach Angaben des Bildungsbüros immerhin noch ein Viertel der ehemaligen Zehntklässler direkt ein Ausbildungsverhältnis aufgenommen. Nur bei den Realschulabsolventen ist der Anteil derjenigen, die sich für eine duale Ausbildung entscheiden, leicht gestiegen (siehe Tabelle).
Handlungsbedarf sehen hier die Mitarbeiter des Bildungsbüros: „Wir wollen die betriebliche Ausbildung attraktiver machen“, sagen Brita Russack und Roland Plüser, der den Übergangsreport maßgeblich zusammengetragen hat. Mit den neuen Daten im Gepäck will das Team in den kommenden Wochen bis zu den Sommerferien reihum alle Schulen besuchen und dort insbesondere mit den jeweiligen Berufswahlkoordinatoren ins Gespräch kommen.
Experte sieht Bedarf für mehr Elternarbeit
In jeder Schulform ist die Situation anders gelagert, weiß Plüser aus den Vorjahren: „Was aber bei allen Besuchen zur Sprache kommt, ist die Bedeutung der Elternarbeit.“ Die Schulen müssten der Berufsorientierung noch größeres Gewicht geben und gegenüber den Müttern und Vätern deutlich signalisieren: „Uns ist nicht egal, was mit Ihren Kindern passiert.“
Allerdings haben Eltern oft eigene Vorstellungen davon, was für ihren Nachwuchs das Beste ist. „Sie bremsen teilweise bei der Ausbildung“, so Brita Russack, „weil sie wollen, dass ihre Kinder länger zur Schule gehen. Vielen ist ein höherer Abschluss wichtiger, auch wenn schon ein Ausbildungsplatz in Aussicht steht.“ Es sei auch einfacher, weiter zur Schule zu gehen. „Das Bewerbungsverfahren für eine Ausbildungsstelle ist wesentlich anspruchsvoller“, so Russack. „Einen 16-Jährigen in den Beruf zu bringen, erfordert schon harte Überzeugungsarbeit.“ Zum Glück spielt ihnen eine andere Entwicklung in die Karten: Betriebe brauchen Fachkräfte und müssen sich mehr denn je anstrengen, ihre Ausbildung für junge Leute attraktiv zu machen.
Bessere Chancen durch gemeinsamen Unterricht
Zum ersten Mal werden im aktuellen Bericht auch die Übergänge von Förderschülern mit den Schwerpunkten „Lernen“ sowie „Emotionale und soziale Entwicklung“ näher beleuchtet. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob diese Jugendlichen im Rahmen der Inklusion bessere Chancen haben, ins Berufsleben einzusteigen. Tatsächlich sieht es so aus, dass im Gemeinsamen Lernen qualifiziertere Ab- und Anschlüsse erreicht werden.
Insgesamt 58 Jugendliche haben 2015/2016 die Förderschule verlassen – nach Angaben der Lehrer hat allerdings niemand von ihnen direkt einen Ausbildungsplatz gefunden. Ihr Weg führte zumeist in unterschiedliche berufsvorbereitende Maßnahmen. Sieben Förderschüler hatten zunächst keinerlei weitere Perspektive, vier von ihnen auch keinen Schulabschluss.
Etwas besser sehen die Chancen für Jugendliche mit den genannten Förderschwerpunkten aus, wenn sie gemeinsam mit anderen unterrichtet werden. Von der Gesamtschule wechselte im Vorjahr immerhin einer direkt in eine betriebliche Ausbildung, von der Hauptschule zwei Jugendliche. „Trotz der noch geringen Datenbasis“ erkennen die Mitarbeiter des Bildungsbüros die Tendenz, dass Schüler aus dem Gemeinsamen Lernen bessere Übergangschancen haben als Förderschüler. Brita Russack schätzt es folgendermaßen ein: „Einem Teil der Jugendlichen eröffnet inklusiver Unterricht neue Möglichkeiten.“ An der Förderschule hätten sie vielleicht „eine schöne Schulzeit“, seien aber kaum anschlussfähig.
„Erfreuliche Ergebnisse“ bei den Seiteneinsteigern
Einen besonderen Blick richtet der aktuelle Übergangsreport auch auf die Seiteneinsteiger an Mülheimer Schulen, überwiegend sind dies jugendliche Flüchtlinge.
Insgesamt haben im vergangenen Jahr 48 Seiteneinsteiger eine der weiterführenden Schulen verlassen. Zwei von ihnen begannen direkt eine schulische Ausbildung, und zwar im Gesundheitswesen. 13 Jugendliche wechselten in die Ausbildungsvorbereitung am Berufskolleg, jeweils neun in die gymnasiale Oberstufe oder Berufsfachschule, acht in die Fachoberschule, und auch für die übrigen wurden Anschlusslösungen gefunden. Nur in einem einzigen Fall blieb der weitere Werdegang unbekannt.
Die Bildungsexperten werten dies als „erfreuliche Ergebnisse“, wenn man berücksichtige, dass die Jugendlichen parallel die deutsche Sprache lernen und den Quereinstieg meistern müssen. „Die Schulen leisten hier eine gute Arbeit“, betont Brita Russack. „Man muss ihnen auch einmal sagen, dass sich die Mühe wirklich lohnt.“