In „Vereinte Nationen“von Clemens J. Setz maßregeln Eltern ihre Tochter vor der Kamera und verdienen damit im Netz Geld. Abwegig ist das nicht

Beim Titel „Vereinte Nationen“ werden weltpolitische Assoziationen wach. Doch der Titel des ersten Theaterstücks von Clemens J. Setz führt eher in die Irre. Es geht ums Private, nicht ums Politische, aber die Sphären lassen sich ja eh nicht trennen. Vereinte Nationen nimmt Bezug auf einen Wortwechsel zwischen Anton und seiner Tochter, der kleinen Maus, den Karin, die Mutter, ganz gelungen findet und ihren Mann Anton dafür mehrfach lobend zitiert.

Das Stück

„Der Spezialist fürs Unbehagliche“, wie die FAZ Clemens J. Setz nennt, hat für sein Stück eine besonders perfide Geschäftsidee ausgeheckt, die nicht so abwegig erscheint, führt sie doch zwei Trends zusammen. Bei dem gegenwärtigen Optimierungszwang sind Erziehungsfragen immer ein Thema, die Ratlosigkeit bei vielen Eltern scheint groß und die Angst, etwas falsch zu machen, was sich auf die Entwicklung ihres Kindes nachteilig auswirken könnte, ebenso. Gleichzeitig entwickelt sich das Internet als Ratgeberplattform für alles, wo selbst ernannte Experten über Literatur urteilen oder Tipps für Garten, Küche und Liebesleben erteilen. Sicher gibt es auch Erziehungstipps. Aber am realen Beispiel, mit der eigenen, siebenjährigen Tochter, die auf Bestellung der Kunden vor laufender Kamera bestraft wird, um das dann im Internet zu verkaufen?

Die Realität ist oft drastischer als die Phantasie. Für Anton und Karin ist das mit Unterstützung von Oskar ein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Martina hat ihren Teller nicht leer gegessen, angeblich mit dem Essen geworfen. Er liest ihr das für sie gestrichene Fernsehprogramm vor und sagt schließlich: „Du hast keine Ahnung, wie gut es dir bei uns geht.“ Da ist der titelgebende Satz: „Den Ton kannst du vor den Vereinten Nationen anschlagen, aber nicht bei mir“, schon längst gefallen. So skrupellos, wie er sich hier gibt, ist er nicht, bricht die Szene ab. Später redet er sich die Erniedrigung des Kindes schön. Setz spitzt die Szene zu, lässt ihn kosten, das Gesicht verziehen und den Fraß angewidert in den Papierkorb leeren. Die treibende Kraft ist eher die Mutter, die ob möglicher Grausamkeiten am Kind völlig unbekümmert erscheint. Aber es gibt auch Szenen, in denen die beiden liebevoll mit ihrem Kind umgehen. Auch Oskar hat die Kunden im Blick. „Ihr seid jetzt noch allein in der Standpaukenkategorie, also nur Anschreien, Bestrafen, in die Ecke und so weiter....Alle ihre Spielzeuge zerstören vor ihren Augen. Das wird sehr oft gewünscht, weißt du?“, versucht Oskar zu werben.

„Vaters Wunsch, nicht zu viel Fiktives solle sein Familienleben bestimmen, während er gleichzeitig dem Reiz der Öffentlichkeit und den finanziellen Vorteilen nicht widerstehen kann, ist beispielhaft für eine Generation, die beim unmittelbaren Erleben oft gleich mit überlegt, auf welchen Kanälen ihr Erlebnis die größtmögliche Resonanz entfaltet“, heißt es in der FAZ. So eindimensional, wie es scheint, sind die Charaktere im Text nicht gezeichnet, was Christine Wahl auf Spiegel-Online als Stärke lobt, was in der Inszenierung von Tim Egloff am Theater Mannheim aber weniger deutlich wird. „Setz darf man mit Fug und Recht als dramatische Entdeckung feiern“, schreibt sie.

Der Autor

Der 35-jährige mehrfach ausgezeichnete Autor aus der Steiermark ist bislang mit dicken Romanen wie „Frequenzen“ und „Indigo“ in Erscheinung getreten, die es wiederholt zielsicher auf die Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis geschafft haben. Zuletzt auch „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Als Theaterautor sieht er sich nicht und gesteht im Gespräch mit Theater heute, dass er eher theaterfern lebe. Es sei ihm keine Herzenssache, die Räume seien ihm eher unangenehm, klaustrophobisch und es erscheine ihm manches rätselhaft. Er bedauere, dass man — was in der Natur der Sache liegt — an Theaterabenden nicht öfter Pause machen, innehalten und über etwas nachdenken könne, deshalb sehe er auch gerne Theaterverfilmungen, Helmut Qualtinger etwa oder Hamlet mit Benedict Cumberbatch. „Ich bin in die genuin dramatischen Möglichkeiten noch gar nicht richtig eingetaucht“, sagt er und führt als Gegenbeispiel Peter Handke an, der sich mit der Theatersituation in seinen Texten auseinandergesetzt habe. Er sei eher ein erzählender Autor. Die Charakterisierung der Personen im Schauspiel allein durch den Dialog „ist eine hohe Kunst. Da bin ich vielleicht noch nicht“, stellt er lachend fest. Aber Dialoge sind es, die ihn am meisten interessieren und das realitätsnahe Sprechen, was sich auch in seinen Romanen widerspiegelt. Den Regisseuren billigt erVeränderungen zu, sie sollen aber auch die Verantwortung dafür tragen. „Das Regietheater ist das Theater!“ Ein Text könne auch gewinnen, was er an „Shining“ deutlich macht: ein mittelmäßiger Roman von Stephen King, aber ein Meisterwerk von Stanley Kubrick.

Promifaktor

Man merkt, Setz ist ein interessanter Gesprächspartner, der für Spannung beim Publikumsgespräch sorgen dürfte.

Die Stärken

„Setz erzählt gnadenlos präzise und ohne moralischen Druck“, lobt Dagmar Walser, Mitglied des Auswahlgremiums. Wie Setz hier den Zeitgeist bei aller Überspitzung den Zeitgeist trifft, ist schon treffend. „Ein Stück, das zupackt und doch viele Rätsel aufgibt. Wie verändern Online-Formate unser Leben? Man kann „Vereinte Nationen als moralische Grenzauslotung der Facebook-Hölle lesen“, heißt es im Mannheimer Morgen, der Regie und Bühnenbild, einen gläsernen Wohnwürfel mit großer Videoleinwand, lobt.

Die Schwäche

Der Schluss ist offen, eine richtige Lösung gibt es nicht, nur eine Szene, in der ein Tier in Not mehr Mitgefühl hervorruft als das böse Spiel mit der Tochter. An der Tochter, die von der Filmerei nichts weiß, gehen erstaunlicherweise alle Aktionen spurlos vorbei. Sei weint noch nicht mal, was kaum vorstellbar ist.

Festivalbarometer

Endrundenpotenzial

Termine & Karten

Studiobühne, Stadthalle, Mittwoch, 17. Mai, und Donnerstag, 18. Mai, 19.30 Uhr. Karten bei der MST, Synagogenplatz. 24/erm. 14,40 Euro.