Konstantin Küspert verknüpft in „Europa verteidigen“ drei Handlungsstränge; einen historischen, einen mythologischen und einen dokumentarischen
An Pulse of Europe, dieser dezentralen Großdemonstration, die sonntags europaweit in mittlerweile in über 100 Städten gut 50 000 Demonstranten mobilisierte, dachte noch niemand, als Konstantin Küspert sein Stück schrieb, dessen Titel, das Leitmotiv dieser Veranstaltung ist: Europa Verteidigen. Dieser Imperativ scheint seit der Uraufführung des Textes am ETA Hoffmann Theater in Bamberg im September 2016 umso dringender.
Der Autor
Konstantin Küspert ist einer der interessanten jungen Autoren, der bei der Kritik auf großes Interesse stößt. Eigentlich wäre er schon im vergangenen Jahr reif für das Festival gewesen. Das Auswahlgremium sah nur davon ab, weil die Inszenierung dem damaligen Stück ganz und gar nicht gerecht geworden sei, wie deren Sprecher Klaus Wille sagte, sich aber zuversichtlich zeigte, dass man von Küspert schon bald etwas Präsentables zeigen könne. Cornelia Fiedler, Sprecherin in diesem Jahr, fand dann gar , man hätte auch gut zwei seiner Stücke einladen können, wenn es um Qualität gehe. „Der 34-jährige Dramatiker schreibt mit Wucht, Humor und auffallend hoher Taktzahl gegen den Zynismus und die Selbstgefälligkeit unserer Zeit an“, schrieb sie dann in der Süddeutschen Zeitung. Vier Texte des gebürtigen Regensburgers, der Germanistik, Philosophie und Politik in Wien sowie Szenisches Schreiben in Berlin studierte, kamen in dieser Spielzeit auf die Bühne. „Akribische Recherche und große Begeisterung für Wissenschaft und Forschung sind für ihn selbstverständlich (...) und so haben seine Theaterarbeiten immer auch etwas von Forschungsprojekten.“ Er recherchiert über Rechtsradikalismus ebenso wie über Gentechnologie, künstliche Befruchtung und die NSA-Enthüllungen. „Konsequent seziert Küspert gängige Diskurse, entlarvt in komischer Zuspitzung all die fatalen Beschönigungen und Verdrehungen unserer Alltagssprache“, schreibt Fiedler weiter. So produktiv wird er wohl nicht bleiben, denn ab der kommenden Spielzeit ist er der Dramaturg am Schauspielhaus Frankfurt an der Seite von Anselm Weber, der Bochum den Rücken kehrt.
Das Stück
Europa hat viele Dimensionen, ist ein politisches und wirtschaftliches Bündnis ebenso wie ein Kulturraum. Diese Vielschichtigkeit versucht Küspert mit drei Erzählsträngen zu bändigen und bei aller Komplexität einen politischen wie auch unterhaltsamen Text zu schreiben. Da ist zunächst eine dokumentarische Ebene: Menschen wie Jonathan reden über die EU: „Da werde eine Bürokratie, so groß, teuer und komplex, dass niemand sie wirklich verstehen könne, über die ohnehin schon extrem komplexen nationalstaatlichen Bürokratie gestülpt, ohne dass die Zuständigkeiten richtig geklärt worden seien.“ Man merkt schon an der indirekten Rede dieses Zitats, dass der Autor um Distanz bemüht ist, die durch Widersprüche noch pointiert wird. Der Parforceritt durch die Geschichte erweist sich als blutige Kriegsgeschichte: sie reicht von Hannibal über die Wikinger bis hin zum Völkermord an den Hereros und dem Nationalsozialismus. Und schließlich gibt es noch einen mythologischen Strang: die gelangweilte Prinzessin Europa („Mein Tagwerk so strunzblöd wie die Freundinnen“) lässt sich von Zeus in Stierkostüm verleiten, ihm zu folgen und wird dann brutal vergewaltigt. Gewalt steht auch am Ende des Stücks, Österreichische Frontex-Soldaten („Es sind immer die Österreicher, die Europa retten“) verteidigen die Außengrenzen ganz wörtlich vor Flüchtlingen.
Die Stärken
Die Pointierung der Geschichte auf kritische Momente. Die Argumente macht die Menschen lebendig. Heinrich, etwa, 96, Förster aus Leidenschaft, erzählt seiner Tochter erst mit über 70 wie es war, als sein bester Freund im Schützengraben in Russland eine Kugel in den Hals bekam, er vergeblich versuchte, die Blutung zu stillen und wie sinnlos der Versuch war und wie wichtig das multilaterale Abkommen ist, das in Europa Sicherheit und Wohlstand garantiert. So dass die Generation seines Sohnes die erste ist, die nicht in den Krieg musste. „Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass diese Generation jetzt drauf und dran ist, alle Vorteile der Europäischen Union zu Klump zu hauen, aus einem diffusen Bedürfnis nach Heimeligkeit.“ Klingt kompliziert, ist aber federleicht. „Das Stück ist herrlich unterhaltsam und lässig inszeniert. Manchmal möchte man am liebsten Brüllen vor Lachen“, konstatiert der Kritiker des Bayerischen Rundfunks..
Die Schwächen
Die drei Stränge führt Küspert zu einem Monolog zusammen, der die Zuschauer direkt anspricht, sie auffordert ihr Herz zu öffnen und etwas für die Flüchtlinge zu unternehmen. Schade findet Andreas Thamm in Nachtkritik, dass Küspert noch eine Haltung in das gelungene Stück reinwurschteln wollte, denn „in seiner Banalität und Unterkomplexität erinnert das dann eher an Schultheater“. Diese „unnötige Ermahnung zum Gutmenschentum mit dem Holzhammer“, beklagt auch Theater heute und hat die Szene beim Stückabdruck kurzerhand weggelassen. Dem Autor ist die Szene, wie er im Gespräch mit dem BR 2 erzählt, dagegen wichtig.
Festivalbarometer
Geheimtipp, neben Jelinek Favorit
Promifaktor
Bamberg ist Provinztheater, aber ein aufstrebendes,seit Sibylle Broll-Pape es vor zwei Jahren übernommen hat. „Das ist das Tolle am Bamberger Theater. Mit jeder Inszenierung entdeckt man Schauspieler“, jubiliert die Süddeutsche Zeitung und in Theater heute heißt es unter der Überschrift „Aufbruch im Krähenwinkel“: „Die kleine Truppe beherrscht bemerkenswert alle Register: klassische Strenge ebenso wie urkomische, selbstironische Leichtigkeit, das boulevardeske Kleinformat oder die ernsthaft grundierte Chaos-Lust wie in Europa verteidigen“. Gelobt werden das konsequente Suchen nach neuen Stücken und die Intendantin für ihre Aufbruchsstimmung, was an einem Haus, in dem „kulturelle Spinnweben in allen Ecken wucherten und das den Anspruch auf Neues und Anderes gar nicht mehr kannte, keine Selbstverständlichkeit ist“. Broll-Pape ist im Ruhrgebiet keine Unbekannte. 20 Jahre lang hat sie in Bochum das Prinz-Regent-Theater geleitet, zu deren Gründern sie zählte, und sich im Schatten des Schauspielhauses mit zeitgenössischen Autoren profiliert. Regisseurin Cilli Drexel ist Stücke-erfahren, inszenierte „Am Beispiel der Butter“ von Ferdinand Schmalz und von Wolfram Höll „Und dann“, was diesem den Dramatikerpreis bescherte.
Termin & Karten
Freitag, 2. Juni, Samstag, 3. Juni, im Theater an der Ruhr, 19.30 Uhr; Im Anschluss beginnt auch die Jury-Sitzung um 22.15 Uhr. Karten: 24 Euro, erm. 14,40 Euro; Karten bei der MST, Synagogenplatz