Mülheim. Eine Umfrage in Mülheim zeigt, was Menschen mit türkischen Wurzeln über die Wahlkampfauftritte denken - und warum viele lieber schweigen.

  • Ein Befragter verweist auf seine „dicke Akte bei der türkischen Polizei“ - Einreise will er nicht gefährden
  • Zunehmende Spaltung der türkischstämmigen Bevölkerung durch Wahlkampfauftritte wird beklagt
  • Sorge um die demokratische Haltung vor allem junger Leute

Der Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland wird scharf und verletzend geführt. Eine Konsequenz ist, wie unsere Umfrage am Montag in Mülheim ergab: Viele türkisch-stämmige Menschen haben eine Meinung zum Thema, aber nur wenige mögen sie öffentlich äußern.

Ihre Zurückhaltung beruht auf nachvollziehbaren Gründen. „Ich habe schon eine dicke Akte bei der türkischen Polizei“, sagt ein Gesprächspartner, „das kann bei der nächsten Einreise gefährlich werden.“ Eine Befragte fürchtet Verwerfungen am Arbeitsplatz und im Familienkreis: „Wenn man etwas sagt“, so ihre leidige Erfahrung, „wird es persönlich genommen.“

Von einer Stellungnahme absehen möchte auch Mustafa Okur, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Rhein–Ruhr, mit dem Hinweis, er lebe seit 52 Jahren in Deutschland: „Ich mache nur hier Politik.“ Die Mitglieder seiner Gemeinde seien „uneinig“.

Die tiefe Spaltung, die man spürt, macht auch dem Stadtverordneten Hasan Tuncer „Angst und Sorge“. Er kenne Fälle von Freunden, Verwandten, die völlig zerstritten seien, aufgrund verschiedener politischer Sichtweisen. Durch Wahlkampfveranstaltungen wie am Wochenende würde dieses befeuert, meint Tuncer: „Jeder Auftritt trägt dazu bei, dass die türkische Community weiter gespalten wird.“

Hinzu kommt: „Es kann nicht sein, dass wir Politikern aus der Türkei ermöglichen, für etwas Undemokratisches zu werben und die Leute zu manipulieren.“ Vor allem mit Blick auf junge Leute fürchtet Tuncer, dass sie sich antidemokratische Meinungen aneignen.

In ähnlicher Weise äußert sich Orhan Göktan, Vorsitzender der Türkischen Sozialdemokraten in Mülheim (TSD), indem er meint: „Wenn die Verfassungsänderung im Sinne Erdogans durchgesetzt wird, ist Feierabend mit der Demokratie in der Türkei.“ Dann drohe eine Diktatur, von „offenem Faschismus“ spricht Göktan sogar. „Propaganda für so etwas darf man nicht erlauben.“ Da seien die Grenzen der Meinungsfreiheit überschritten. In der Türkei, ergänzt Göktan, würden Kritiker verhaftet, verlören ihre Arbeit und ihre Existenz: „Es ist sehr traurig, dass diese Ängste jetzt auch Deutschland erreicht haben.“

Als deutlich weniger dramatisch empfindet Emine Arslan, Vorsitzende des Mülheimer Integrationsrates, die Situation. In ihrem Freundes- und Familienkreis seien durchaus verschiedene Meinungen bezüglich der Wahlkampfauftritte vertreten, „es wird heiß diskutiert“, aber man könne nach wie vor offen miteinander reden. Sie persönlich erinnert daran, dass Millionen von türkischstämmigen Menschen hier in Deutschland nicht wählen dürften, nur in der Türkei. „Daher ist es ihr Recht, dass solche politischen Veranstaltungen stattfinden, und ich bin auch dafür. Aber nicht einseitig.“ Kritische Stimmen müssten ebenfalls vertreten sein, angehört werden.

„Ein schwieriges Thema“, meint Ahmet Avsar, Betriebsratsvorsitzender der MVG, „viele Deutsche mit Migrationshintergrund sind zwiegespalten.“ Er selber ist hier geboren und aufgewachsen, aber im Urlaub regelmäßig in der Türkei zu Gast, so dass er in beiden Ländern, durch Bekannte, Freunde und die Presse, mit verschiedenen Meinungen konfrontiert sei. „Ein unangenehmer Spagat“, so Avsar, „Menschen wie ich geraten zwischen die Räder.“ Angesichts der Turbulenzen um eine mögliche Verfassungsänderung in der Türkei habe er seine persönliche Position aber schnell gefunden: „Einen Systemwandel fände ich falsch.“ Mit dieser Meinung stehe er unter den Türken in seinem sehr gemischten Freundeskreis aber ziemlich alleine da. „Es tut unserem Zusammenleben in Deutschland nicht gut, wenn hier türkischer Wahlkampf gemacht wird“, so Avsar.