Die Tersteegenschule ermöglicht ein Stück Lern-Luxus mit kleinen Klassen und individueller Förderung. Neben dem üblichen Fächerkanon geht es um Selbständigkeit, Kooperation, Gesundheit – und gegen Versagens-Frust
Drei zweigeschossige rote Flachdach-Ziegelbauten, zwei Quertrakte, eine Sporthalle, Schulhof mit Klettergerüst, Basketball-Korb und aufgemalten Verkehrswegen zwischen alten Platanen – ein Zweck-Komplex wie so viele Schulbauten. In Teilen sanierungsbedürftig, nicht wirklich schön, längst nicht hässlich, eben rechteckig, praktisch, gut. Das Innenleben zeichnet ihn aus. Hier zeigt die Tersteegenschule Profil. Schlaglichter vom Freitag: In der Turnhalle feiern die ersten vier Jahrgangsstufen aufgekratzt Karneval. Prinzessinen und Polizisten, Cowboys und Gespenster drehen zum „Roten Pferd” ihre Runden, toben spielerisch – und tun dennoch etwas für ihre Motorik. In der Pausenhalle haben Hauswirtschafterin Eva Heer und Erzieherin Melanie Heckner ihr Jolanthe-Frühstück aufgebaut. Gesunde Sachen für kleines Geld verkaufen sie neuerdings in den Pausen. Mittags gibt es im Ganztagsbereich abwechslungsreiche, frische Kost: Fischfilet, Kartoffeltaschen und Rohkost weist die Tageskarte aus. Speiseraum und Spielbereich sind einladend, die Tische nett gedeckt. Auch das hat System. Es geht nicht nur ums Essen, sondern auch um Esskultur, um Wertevermittlung. „Unsere Kinder brauchen in allen Lebensbereichen besondere Unterstützung”, meint Schulleiterin Dr. Christiane Fernkorn. Am Billardtisch klickern die Kugeln. Vier ältere Mädchen wagen eine Pausen-Partie. Tischtennis-Rundplatte und Kicker stehen parat. In einer Ecke haben sich vier Jungs und eine Erzieherin neben dem plätschernden Figuren-Brunnen zurück gezogen, nehmen eine Auszeit von Lärm und Hektik rundum. Rückzugsräume zu bieten, gehört ebenfalls zum Konzept. „Ich denke, wir bieten einen Rahmen, in dem sich Kinder wohl fühlen”, sagt Konrektor Wolfgang Kallis. „Förderschule der Stadt Mülheim an der Ruhr” steht auf dem grünen Schild am Eingang – und „Schwerpunkt Lernen” steht über allem. Wer hier den Unterricht besucht, ist lernbehindert. Ein abstrakter Begriff für ganz persönliche, einschneidende Probleme, die die Kinder nicht nur ein Schülerleben lang begleiten werden. „Vielen fehlt die Basisqualifikationen fürs Lernen, sie können nicht strukturieren, nicht wichtige von unwichtigen Sachen trennen, haben Wahrnehmungsschwierigeiten, sind in der Motorik gestört”, sagt Fernkorn. Die „Zieldimensionen schulischer Arbeit” füllen drei Übersichts-Diagramme. Im Mittelpunkt: Der selbständige Schüler, der kooperative Schüler, der gesunde Schüler. Das hört sich äußerst theoretisch an, wird aber im Schulalltag mit Leben gefüllt. Soziales Lernen gehört zum Unterricht genauso wie Streitschlichtung zu den Pausen. Teamsport, Schülerband und Klassendienste, Gespräche und Krisenintervention gehören zum Angebot wie Partner-Gruppenarbeit und Helfersysteme. All das ist eingebettet in einen „normalen Fächerkanon. Wir sind eine ganz normale Schule”, betont Fernkorn, „Und wir behalten immer im Auge, dass unsere Kinder rücküberwiesen werden zur Regelschule.” 2007 hat sich die Schule als erste Förderschule einer Qualitätsanalyse gestellt. Das Feedback war gut – und Bestätigung der Arbeit. Die unterliegt ständiger Veränderung. „Unser Schulprogramm”, so Fernkorn, „wird ständig fortgeschrieben. Wir müssen unsere Entwicklungsbereiche stets neu definieren, permanent unsere Ziele und unser Unterrichtsvorgehen entwickleln. Das tun wir zusammen mit Schülern und Eltern.” Frühe Förderung macht aus Sicht der Sonderpädagogen Sinn. „Wenn ein Kind erst das Scheitern lernt, wird es schwieriger. Ich finde wichtig, dass es einen aufsteigenden Weg gehen kann.” Entscheidend ist für Fernkorn, „dass Schüler nicht zu spät zu uns kommen”. Sie versteht das durchaus als Anti-Frust-Rezept. Für Mädchen und Jungen, die früh in der Regelschule auf der Strecke geblieben sind. „Es gibt immer wieder Kinder, die dadurch Leistungsangst entwickeln und Motivationsprobleme bekommen. Das bezieht sich dann oft auch auf andere Lebensbereiche. Wir haben immer wieder erlebt, dass diese Kinder hier bei uns aufblühen.” Die Eingangsklasse an der Klotzdelle hat aktuell drei Schüler, sieben sind es in der zweiten Klasse, später 13 bis 15. Die Klassengröße ermöglicht intensive, individuelle Betreuung, Beziehungsarbeit. „Das ist schon ein Stück Lernluxus”, glaubt Fernkorn. „Es ist wichtig, dass Lehrer sehr intensiv auf die Kinder eingehen und sie mit ihren Problemen ernst nehmen, damit sie sich sicher und aufgehoben fühlen”, sagt Barabara Barkoff. Die Heilpädagogin arbeitet an der Schule ebenso wie eine Sozialarbeiterin. „Die Zusammenarbeit geht hier mehr Hand in Hand als ich das kannte”, meint Miriam Reichling. Sie gehört zum Erzieher-Team, das durch die Offene Ganztagsschule (OGS) das Kollegium verstärkte. „Uns sind so Kräfte zugewachsen”, freut sich Fernkorn. „Durch die OGS wurde das Sozialverhalten besser, da greift vieles ineinander. Auch das wirkt sich auf die Qualität des Unterrichts aus.” Was die Lehrkräfte nicht schaffen können, sind wirklich gute Perspektiven für die Zeit nach der Schule. „Mit Praktikumsplätzen gibt es kein Problem, das klappt”, sagt Kallis, „aber auf den ersten Arbeitsmarkt gehen nach dem Abschluss die wenigsten Schüler.” Auch das ist nicht anders als an vielen Regelschulen.