Mülheim. Peter Rüchel, Vater der Rockpalast-Nächte, erinnerte sich in der Mülheimer Sol Kulturbar an Höhepunkte aus 17 Konzerten.
- Gut 80 Zuschauer erlebten Rüchel und die Band 78Twins
- Seine knapp achtzig Jahre merkt man ihm nicht an
- Nach dem Buch ist jetzt ein Film in Vorbereitung
Die charakteristische Stimme erkennt man sofort beim ersten Satz. Über die Jahrzehnte hat sie sich nicht merklich verändert und sie weckt prompt Erinnerungen an legendäre Rockpalastnächte, die man seit 1976 zwar nicht alle direkt am Bildschirm, geschweige denn live in der Essener Grugahalle, miterlebt haben mag, aber viele in der Wiederholung gesehen hat und die musikalisch prägend waren. Wach werden auch Erinnerungen an teilweise schwierige Interviews, bei denen der Rockpalast-Erfinder Peter Rüchel vielleicht das eine oder andere Mal zu sehr den magischen Moment beschwor und die Rockmusik intellektuell aufzuladen versuchte.
Vielleicht war man als Jugendlicher auch nur zu ungeduldig und auf die Musik fixiert, aber nun in der Rückschau auf die Musikgeschichte fesselt und beeindruckt der bald 80-Jährige, der in der Sol Kulturbar selbst an ein missratenes Interview der anderen Sorte erinnerte. Mitch Ryder kam 1979 vor seinem Auftritt volltrunken, die Bourbonflasche in der Hand zum Künstlergespräch, beschimpfte zunächst das Publikum, baggerte dann die Frau des Fotografen an und verweigerte sich der Fragen. „Es wurde ein unglaublich intensives Konzert. Man merkte, hier sang jemand um sein Leben“, erinnert sich Rüchel, dem man das Alter nicht ansieht und der außerdem eine enorme Ausdauer und geistige Präsenz beweist. Musikalisch begleitet von den 78twins um Benny und Bastian Korn mit Martin Ettrich an der Gitarre hält er über drei Stunden lang durch und erreicht so fast die Länge des legendären Konzerts der Grateful Dead von 1981 — und das im Gegensatz zu jenen ganz ohne bewusstseinserweiternde Substanzen.
Rüchel, der Philosophie und Theaterwissenschaften studiert hat, schüttelt in freier Rede locker Personen, Daten, Songs, ja ganze Setlists aus dem Ärmel, hangelt sich geschmeidig von Anekdote zu Anekdote. Ausgerechnet nach dem Namen von Programmdirektor Dr. Günter Struve, der den Rockpalast 1986 nach 17 Nächten schließlich absetzte, muss er einen Moment überlegen. Die Musik hatte sich geändert, der Kartenverkauf 1985 verlief schleppend, das Programm war auch kein Knaller, aber auch das Fernsehen hatte sich gewandelt. Mit den Privaten kam die Quote.
"Rock‘n’Roll nicht kastrieren"
Wurde Rüchel nach der Reichweite gefragt, so antwortete. „Bei denen, für die Rockmusik ein Lebensmittel ist, erreichen wir hundert Prozent. Doch das war nicht mehr die Münze, die gefragt war.“ Von Struve war er ein weiteres Mal abhängig, als er für den wiederbelebten Rockpalast nach zwei Jahrzehnten vergeblichen Bemühungen endlich Neil Young verpflichten konnte und ihn live ins Fernsehen bringen wollte. „Seien Sie kühn!“, appellierte Rüchel. Für die Primetime reichte der Mut nicht. Neil Young durfte um 1:45 Uhr rocken. „Danken sie mir nicht, sie sind ein Teil meiner Jugend“, soll Struve ihm gesagt haben.
Der Mut, die Offenheit für Neues und der liberale Geist des WDR, der ein solche Format ermöglichte, nicht nur den prominenten Sendeplatz, sondern auch finanzielle Mittel bereitstellte, ist das zweite große Leitmotiv des Vortragsabends. „Es zeichnet den WDR aus, dass er den Rock‘n’Roll nicht kastrieren wollte“, sagt er und nennt neben dem Eklat bei Mitch Ryders Interview den Auftritt der Red Hot Chili Peppers, die später auf der Loreley bei einem Song nichts als eine lange Socke trugen. Es hagelte Proteste an den Intendanten, Friedrich Nowotny nahm die Beschwerden zwar ernst, verteidigte das Konzept und hielt an der Live-Übertragung fest.
Eurovision: Live in 16 Ländern
Auch die Arbeitsbedingungen waren optimal: Eine Woche lang wurde in der Grugahalle das Equipment aufgebaut und für die Übertragung, die in Spitzenzeit in 14 Ländern ging, geprobt, während die Bands in einem nahegelegenen Hotel logierten. Da ergaben sich intensive Beziehungen, etwa zu Billy Gibbons von ZZ Top, die dem Rockpalastauftritt ihren Erfolg in Europa zu verdanken haben. Das ist Rüchel, der Gibbons erst kürzlich wieder getroffen hat, ganz gegenwärtig. Wie sein letztlich vergebliches Werben um Stevie Wonder, der schließlich an der Seite mit Peter Gabriel bereit für ein völlig abgedrehtes Projekt gewesen wäre, das nie zustande kam: ein Festival am Nordkap. „Ich muss diesen Ort sehen“, soll der blinde Musiker ihm voller Enthusiasmus gesagt haben.
Oder zu Pete Townsend von den Who, die er erst überzeugen konnte, nachdem The Police aufgetreten und das Konzert von der BBC übertragen wurde. Als Rüchel die Musiker bei einem Warm-Up in England erlebte, war er zunächst schockiert, aber in Essen spielten sie nüchtern und in Topform.
Nach einem Buch ist jetzt ein Film zu 40 Jahre Rockpalast in Vorbereitung. Rüchel ist aber sicher, dass jeder der gut 80 Zuschauer oben auf dem Podium sitzen und seine Rockpalastgeschichte erzählen könnte. Rockmusik ist auch ein großes Gemeinschaftserlebnis und so passt der Beatles-Klassiker „Come together“, den die 78twins zur Eröffnung spielten, doch ganz gut.