Ihr Tag beginnt um 9 Uhr. Nach dem Frühstück heißt es: üben! Erst Klavier- und Orgelspiel. Dann geht Christiane Böckeler zum Dirigieren über. Musik macht der 50-jährigen Kirchenmusikerin Freude, aber auch Arbeit. Am Nachmittag steht noch eine Probe mit dem Projektchor ihrer Gemeinde auf dem Programm, mit dem sie eine lateinamerikanische Messe einstudiert.

An anderen Tagen würde sie vielleicht noch ein Seminar an der Düsseldorfer Musikhochschule besuchen, wo sie sich auf ihr nebenberufliches Examen als Kirchenmusikerin vorbereitet.

Auch private Klavierstunden gehören für die studierte Klavierpädagogin normalerweise zu ihrem täglichen Brot, doch die lässt sie aufgrund ihrer aktuellen Studienverpflichtungen derzeit ruhen.

Weiter gehen für die Chorleiterin allerdings ihre abendlichen Proben mit den modernen A-Capella-Chören, den Silk-O-phonics und dem Ruhrschrei. An diesem Abend warten zehn der 17 Ruhrschrei-Sänger im evangelischen Gemeindehaus an der Witthausstraße auf sie. Der erste Blick in den Saal überrascht positiv. Von Überalterung keine Spur. In diesem Chor reicht das Altersspektrum von 25 bis 60, von der Studentin bis zum Vorruheständler.

Warum ist das so? Ein Blick ins Proben-Repertoire lässt es erahnen. Robbie Williams „Angles“, „Every Breath You Take“ von The Police und „Das Beste“ von Silbermond stehen auf dem Programm.

„Solche Lieder entsprechen heute eher den Hörgewohnheiten und dem Lebensgefühl der Menschen. Außerdem wirken populäre A-Capella-Chöre, wie Basta, Maybe Bob oder die Wise Guys sehr inspirierend“, erklärt sich Christiane Böckeler die Anziehungskraft solcher und ähnlicher Pop- und Rocksongs. Bernd, 52, Handwerksmeister, stimmt ihr zu: „Ich habe 30 Jahre in einem Männergesangverein gesungen, bevor ich zum 2009 gegründeten Ruhrschrei kam. Hier kommt mit der Musik einfach mehr Lebensfreude auf.Und das hat auch mit dem Einfühlungsvermögen und dem emotionalen Gespür für Menschen zu tun, das Christiane Böckeler einfach mitbringt.“

Die Mutter eines erwachsenen Sohnes, die seit ihrem 19. Lebensjahr Chöre leitet, Klavierunterricht gibt und Kirchenmusik macht und jetzt spätberufen auf ein Kirchenmusik-Examen zusteuert, weiß: „Als Chorleiterin muss man die Begeisterung für die Musik vermitteln und die Sänger zum Grooven bringen.“ Böckeler ist davon überzeugt: „Musik ist eine Sprache, die jeder verstehen und die alles ausdrücken kann, was sonst unsagbar wäre, egal, ob es sich um ein Volkslied, ein Oratorium oder einen Popsong handelt.“

Dass guter Gesang etwas mit einem guten Körpergefühl zu tun hat, merkt man, wenn Böckeler die Damen und Herrn des Ruhrschreis zum Auftakt der Probe aufstehen und sich recken, strecken und lockern lässt. Und bevor sie mit ihrer Chor-Crew an „I sit and wait, does an angel contemplate my fate“, „Every breath you take. Every move you make“ und: „Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Es tut so gut wie du mich liebst“ herangeht, begleitet sie auf dem Klavier erst mal einige Sprach- und Gesangsübungen, a la „Si, si, si, si, sie“ und: „Ti, Ti, Ti, r, Ti.“ Nach dem Mundmuskulatur und Stimmbänder so geschmeidig gemacht worden sind, geht es ans eigentliche Chorwerk.

Der Laie im Hintergrund staunt darüber, wie lange und intensiv man drei Liebeslieder proben kann, die der Ruhrschrei demnächst bei einer Hochzeit singen wird. Die Chorleiterin nimmt jeden zweiten bis dritten Takt auseinander. Immer wieder wird unterbrochen und neu angesetzt, wenn sie im Halbkreis ihrer Sänger eine stimmliche Unebenheit herausgehört hat: „Hier müsst ihr den Ton etwas besser führen und höher halten.“ „Das ist ein schöner Akkord. Der passt aber nicht an diese Stelle.“ Oder: „Denkt dran: Ihr müsst hier verliebter klingen.“

Was positiv überrascht, ist der Umstand, dass Böckler es versteht, ihre kontinuierlichen Korrekturen so freundlich und charmant an die Frau und den Mann zu bringen, dass keine angestrengte und stressige Stimmung aufkommt. Wenn Christiane Böckeler bei den Proben mit ihrem Klavierspiel die Tonalität und den Rhythmus ihres Mülheimer A-Capella-Chores unterstützt, alternativ mit den Fingern schnipst und sich zur Melodie in den Hüften wiegt oder diese mit ihren Handbewegungen in der Luft nachzeichnet, scheint die Chorleiterin zur Chorschwester zu werden, die mit ihrem Ensemble verschmilzt.

Kurz nach 22 Uhr beendet Christane Böckler dann mit einem „so, das reicht für heute“ die Chorprobe und handelt mit ihrem Ensemble noch einen Ersatztermin für die nächste Probe aus. Denn in der kommenden Woche muss sie zur üblichen Zeit an eine Workshop in der Düsseldorfer Musikhochschule teilnehmen, damit aus der schon lange praktizierenden demnächst auch eine examinierte Kirchenmusikerin werden kann.