Mülheim. Die Zahl der Inobhutnahmen ist 2015 in Mülheim rasant auf 140 Fälle angestiegen. Die Stadt sieht immer mehr Eltern überfordert mit Erziehung und Versorgung.
Der Tod des drei Monate alten Mädchens nach schwerer Misshandlung im November 2015 war nur die erschreckendste Nachricht: Die Stadt muss immer häufiger in Familien einschreiten, um das Wohlergehen von Kindern sicherzustellen. Im Vorjahr hat die Zahl der Inobhutnahmen einen Rekordwert erreicht.
Der Kommunale Soziale Dienst (KSD), der in Mülheim mit dem gesetzlichen Kinderschutz betraut ist, hat im Jahr 2015 insgesamt 140 Jugendliche in Obhut genommen, im Jahr zuvor war diese weitreichendste aller möglichen Schutzmaßnahmen nur in 36 Fällen anzuwenden. Der enorme Anstieg erklärt sich, so KSD-Leiterin Martina Wilinski, nicht allein aus der Tatsache, dass auch rund 60 minderjährige Flüchtlinge unterzubringen waren, die ohne Erziehungsberechtigte nach Mülheim gekommen waren.
Kommunaler Sozialer Dienst: Überforderungssituationen nehmen zu
Vielmehr stellt der KSD fest, dass ein bundesweit festzustellender Trend auch in Mülheim greift: Das Kindeswohl ist immer häufiger gefährdet. „Überforderungssituationen von Eltern nehmen aufgrund von schwierigen Lebensbedingungen zu“, so Wilinski. „Dies wirkt sich auch auf Erziehungs- und Versorgungssituationen von Kindern aus.“ Geldsorgen, Arbeitslosigkeit, Alkoholprobleme, Straffälligkeit – immer häufiger habe das Klientel, mit dem es der KSD zu tun bekomme, gleich mit mehreren Problemen zu kämpfen. „Da passiert es häufiger, dass Familien diesem Druck nicht standhalten, in Isolation geraten, sich aber schämen, rechtzeitig Hilfe zu holen.“
Das seit 2012 geltende Kinderschutzgesetz, dass etwa Institutionen verpflichtet, bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zu informieren, zeigt laut Wilinski auch in Mülheim Wirkung. So steigt die Zahl der Meldungen zur Kindeswohlgefährdung beständig. 334 Fälle landeten 2015 beim Jugendamt, bei 120 davon erkannte der KSD tatsächlich eine latente beziehungsweise akute Gefährdung für Leib und Leben. 28 Mal erfolgte gar sofort eine Inobhutnahme. Hilfen zur Erziehung anzunehmen, falle vielen betroffenen Eltern dabei schwer, so Wilinski. So landen zunehmend mehr Fälle im Erörterungstermin vor dem Familiengericht, um eine Verfahrensweise zu verabreden.
„Es nimmt zu, dass Eltern die Hand ausrutscht“, sagt Wilinski. Bei der Feststellung, dass in einer Familie das Kindeswohl gefährdet sei, spiele Gewalt nicht mehr eine untergeordnete Rolle. Bei den Inobhutnahmen im Jahr 2015 sei 30 bis 35 Mal Gewalt im Spiel gewesen. In einem Fall, bei dem das Familiengericht eine Inobhutnahme abgelehnt hatte, endete es für das drei Monate alte Baby tödlich.
Jugendhilfe klagt: Zu viele Fälle pro Mitarbeiter
In immer mehr Mülheimer Familien muss der Kommunale Soziale Dienst (KSD) gegen eine Kindeswohlgefährdung einschreiten. KSD-Leiterin Martina Wilinski gab auf Nachfrage dieser Zeitung an, dass jeder der 30 Mitarbeiter aktuell 60 bis 70 Familien zu betreuen hat. Zu viel? „Ja“, sagt Wilinski.
Die Stadt hat im vergangenen Jahr ihre Ausgaben für den Kinderschutz um eine beträchtliche Millionensumme erhöhen müssen, laut Wilinski wird es auch in naher Zukunft eine weitere Personalaufstockung beim KSD geben, um der enormen Verantwortung gerecht werden zu können, das Wohl gefährdeter Kinder und Jugendlicher in Mülheim zu schützen.
Vereinzelt stellen Mitarbeiter Überlastungsanzeigen
Die einzelnen KSD-Mitarbeiter sind im Zweifel haftbar zu machen, wenn ihnen nachgewiesen werden kann, nicht angemessen auf eine Kindeswohlgefährdung reagiert zu haben (sogenannte Garantenpflicht). Deshalb sind Überlastungsanzeigen in diesem kommunalen Bereich auch anderswo in Deutschland keine Seltenheit. Mitarbeiter zeigen ihrem Arbeitgeber damit an, dass sie nicht mehr glauben, gewährleisten zu können, ihrer zugewiesenen Verantwortung gerecht zu werden. Jene Überlastungsanzeigen, so Wilinski, gebe es auch beim Mülheimer KSD vereinzelt. Für wenig Geld tragen die Mitarbeiter viel Verantwortung. „Die Kollegen stehen ständig im Spagat“, sagt Wilinski. Der Druck, mit Familien in schwierigsten Verhältnissen zusammenarbeiten zu müssen, habe sich verstärkt.
Nachdem das Personal zuletzt 2012 aufgestockt worden ist, sei für dieses Jahr, so bestätigte am Mittwoch Sozialamtsleiter Klaus Konietzka, eine weitere Verstärkung für das Team beim Personalamt beantragt. Gerade Alt-Oberbürgermeisterin Dagmar Mühlenfeld habe in dieser Angelegenheit stets ein offenes Ohr gehabt, lobt Wilinski, von der Stadtspitze bei der diffizilen Aufgabe des Kinderschutzes nicht alleine gelassen zu werden. Die Arbeit des Kommunalen Sozialen Dienstes in Mülheim galt vor Jahren schon als Vorbild für andere NRW-Kommunen, um ein angemessenes Hilfenetzwerk zu spannen.