1100 Quadratmeter Wohnfläche, alles auf 20 000 Quadratmeter Grundstück, Baujahr 1913, neobarocker Stil, alter Baumbestand: Sie können es nicht kaufen, das Haus Urge an der Bismarkstraße in Holthausen, das einst für den Lederfabrikanten Jean Baptiste Coupienne gebaut wurde, später das Wohnhaus der Familie Stinnes war. Im Garten gibt es noch einen Swimmingpool, in dem Stinnes morgens von 7 bis 8 Uhr seine Bahnen gezogen haben soll. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Haus Urge als britisches Militärcasino genutzt. Seit Mitte der 70er-Jahre gehört es dem Max-Planck-Institut für Kohlenforschung. Mieter ist die Zenit GmbH, die es wieder zu einer Adresse machte, die weit über Mülheim hinaus strahlt.
An kaum einem anderen Ort der Stadt – vielleicht noch in der katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ – trat in den vergangenen Jahrzehnten so viel Prominenz auf. Zenit steht für Innovation und Technologie, eine Einrichtung, die sich dem Mittelstand verpflichtet fühlt. Zenit hilft Unternehmen, Kontakte in Europa zu bekommen, Märkte zu erkennen oder zu entdecken, Nischen aufzuspüren, Mittel aus Fördertöpfen Europas zu erhalten, neue Geschäftsbeziehungen anzubahnen. Viele Fachleute arbeiten dafür.
Im Schnitt 100 bis 120 Gäste
Das Haus Urge ist heute aber auch durch das Netzwerk des Zenit-Vereins ein Treffpunkt für Unternehmer, Politiker, Wissenschaftler, ausländische Delegationen wie für EU-Kommissare geworden. Sechs Mal im Jahr lädt das Netzwerk einen prominenten Gast ein, der zu einem aktuelle Thema referiert und sich anschließend der Diskussion stellt. Vor gut 30 Jahren machte der damalige Wirtschaftsminister des Landes NRW, Prof. Reimut Jochimsen, den Anfang: Technologie-Politik des Landes war sein Thema, und er gehörte zu denen, die später wiederholt vor rund 100 bis 120 Gästen im Foyersaal sprachen. Für Zenit ging es stets darum, ein Podium zu schaffen, auf dem Entscheidungsträger und Multiplikatoren aus erster Hand über aktuelle Entwicklungen, Probleme, Fragen informiert werden. Wo steht das Land, wo Deutschland, wo die Welt?
Der Forschungsminister der Bundesrepublik, Heinz Riesenhuber, war auch ein Referent der ersten Stunde: Kann die deutsche Forschung international mithalten? Hemmnisse für Innovationen im Land wurden damals diskutiert und Hürden wie Beschränkungen für Wissenschaft beklagt. Jürgen W. Möllemann, damals Wirtschaftsminister, befasste sich gleich nach der Wende im Haus Urge mit den neuen Herausforderungen des gerade vereinten Deutschlands. Die Mittelstandsförderung war 1993 Thema von Johannes Rau, damals Ministerpräsident.
Alltagswelt der Unternehmen
Beim Unternehmertreff wurden schon vor über 20 Jahren Fragen erörtert, die heute weiterhin Bestand haben: Ist Umweltschutz für die Wirtschaft noch bezahlbar? fragte Prof. Klaus Töpfer im Jahr 1994, und kurz darauf warb der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder für „ein aktives Miteinander von Wirtschaft und Politik“. Hatte er da schon seine Agenda im Kopf? Als er Kanzler war, kam Angela Merkel als Vorsitzende der CDU nach Mülheim und setzte sich mit der Frage auseinander: Hat die Marktwirtschaft in Zeiten der Globalisierung eigentlich noch eine Zukunft? Sie könnte sie heute erneut stellen.
Es drehte sich immer um das große Ganze und zugleich um die Alltagswelt der Unternehmen. Die Chancen des Mittelstand waren oft Gegenstand der Runden, immer wieder ging es um Innovationen, zuletzt verstärkt auch darum, wie Wirtschaft und Wissenschaft konkret mehr voneinander im Alltag profitieren können.
Große gesellschaftliche Themen flossen ein: Peter Meyer, damals noch ADAC-Präsident, sprach zur Mobilität; Bodo Hombach, damals Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, ging der Frage nach, wie lange es Zeitungen noch geben mag; und Helmut W. Ganser, Brigadegeneral der Nato in Brüssel, hatte vor zehn Jahren die Frage gestellt, die wir uns auch heute noch stellen: Wie ist es eigentlich um die Sicherheit Deutschlands bestellt?
Nie Schönwetterreden
Es sind nie Schönwetterreden gewesen, oft wurden auch schonungslos Defizite aufgezeigt. NRW-Verkehrsminister Michael Groschek etwa zeigte vor zwei Jahren auf, wie desolat sich die Verkehrsverhältnisse im Land darstellen, wie groß der Sanierungsbedarf ist, wie schwierig es werden dürfte, diesen in den nächsten Jahren auch nur annähernd zu bewältigen. Es gibt längst nicht immer Antworten auf die Fragen, oft aber eine erzeugte Sensibilisierung, eine Nachdenklichkeit, die das Netzwerk erreichen will.
Die Reihe geht weiter, weil sie auch 30 Jahre nach ihrem Beginn ein interessiertes Publikum findet, und weil es dem Netzwerk Zenit nach wie vor gelingt, Größen der Zeit ins große Haus zu holen. Mit Prof. Hans Joachim Schellnhuber war vor wenigen Tagen einer der renommiertesten Klimaforscher im Haus. Und wer meint, Innovationen seien alles und entscheidend über Erfolg und Nichterfolg von morgen, den führt Prof. Rainer Meckenstock im Juni in eine ganz andere Welt, in die der Mikroorganismen, „die Herrscher in unserer Umwelt“. Langweilig, sagt einer, der seit Jahren zu den Gästen gehört, sei es noch nie gewesen.