Mülheim. Der WAZ-Leserbeirat im Gespräch mit dem Kämmerer Uwe Bonan über Schulden, MVG, RWE-Aktien, Flüchtlingsunterbringung, Chef-Gehälter und Stadtperspektiven

Wie kommt es, dass eine Stadt mit überdurchschnittlicher Kaufkraft, mit hohen Gewerbesteuereinnahmen, in der mit die meisten Millionäre des Landes leben, eine so hohe Pro-Kopf-Verschuldung von etwa 8000 Euro hat?

Uwe Bonan: Viele Gründe spielen dabei eine Rolle. Wir haben hohe und steigende Soziallasten. Ständig werden uns neue Aufgaben ohne Gegenfinanzierung übertragen, wie z.B. die U3-Betreuung. Für den Solidarpakt Ost haben wir bisher 170 Millionen Euro aufbringen müssen, die wir über Kredite finanziert haben. Wir leisten uns, was politisch gewollt ist, teilweise hohe Standards. Zum Beispiel bei der Betreuung von Kindern in der Offenen Ganztagsschule. Hier verfügen wir über einen höheren Betreuungsschlüssel als viele andere Kommunen. Wir müssen zudem jährlich ein Defizit von mittlerweile 35 Millionen Euro bei der Mülheimer Verkehrsgesellschaft verkraften. Ein Grund dafür ist der sehr kostenintensive Schienenverkehr.

Wie stark belastet die Flüchtlingskrise die Stadt finanziell?

Bonan: Im letzten Jahr haben uns Bund und Land auf fast 10,0 Millionen Euro sitzen gelassen. In diesem Jahr ist im Haushalt für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen eine Deckungslücke von etwa 20 Millionen Euro veranschlagt. Das heißt, die Mittel, die uns Bund und Land geben, reichen bei Weitem nicht aus, um die Kosten zu decken. Und: Wir erhalten vom Land Geld für lediglich 1900 Flüchtlinge, tatsächlich leben bei uns schon 2680. Das Land hat zum Glück etwas nachgebessert.

Ich habe das Gefühl, dass sich die Stadt häufig sehr teure Lösungen leistet. Es gibt doch oft auch preiswertere Varianten, das gilt auch für die Versorgung von Flüchtlingen.

Leserbeirat der WAZ

Zwei Jahre lang begleitet der WAZ-Leserbeirat jeweils die Redaktion mit Kritik und Anregungen. Es ist der vierte Leserbeirat. Die Mitglieder sind Bürger aus Mülheim, die sich stark für die Stadtpolitik und für die Tageszeitung interessieren.

An dem Gespräch mit dem Kämmerer nahmen teil: Jutta Lüttringhaus, Sascha Syben-Holtbernd, Manfred Bogen, Michael Schöttle, Ulrich Schoeps, Günter Wusthoff und Ulrich Müffler.

Bonan: Im Normalfall schreiben wir Aufträge aus und erhalten dadurch die wirtschaftlichste Lösung. Das wird auch überprüft. Was die Flüchtlinge angeht, sind wird oft nicht in einem normalen Verfahren, weil zur Vermeidung von Obdachlosigkeit sehr schnell reagiert werden muss. Wir suchen aber auch hier immer nach wirtschaftlichen Lösungen. Leider hat sich der Markt radikal geändert. Die Preise, etwa für Wohncontainer, haben sich zum Teil verachtfacht. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.

Kann die Stadt nicht stärker auf leer stehende Wohnungen zurückgreifen?

Bonan: Unser Ziel ist von Beginn an gewesen, Flüchtlinge dezentral in Wohnungen zu unterzubringen. Das hat anfangs auch geklappt. Dann kamen so viele, dass wir keine ausreichenden Wohnungsangebote mehr hatten, oder wir erhielten solche Angebote, die für uns inakzeptabel waren. Darin würden wir keine Menschen unterbringen. Wir haben Holzhäuser aufgestellt mit einem ordentlichen Standard, das ist allemal besser als Zelte.

Wir investieren jetzt 50 Millionen Euro in weitere acht Flüchtlingsstandorte. Zusätzlichen sozialen Wohnraum zu schaffen wäre für mich die nachhaltigste Lösung: Wir könnten den Wohnraum später weiter nutzen und dort auch eines Tages eine Durchmischung der Bewohner erzielen, was für die Inte­gration wichtig wäre.

Noch einmal zur MVG: Warum leistet sich die Stadt so viele teure neue Straßenbahnen, die oft halb leer durch die Gegend fahren? Wären nicht kleine Busse allemal besser?

Bonan: In manchen Fällen und zu manchen Zeiten wären vielleicht sogar Taxen besser, wirtschaftlicher für uns. Es gibt zu der Frage sehr unterschiedliche Auffassungen. Derzeit ist auch eine Perspektivbetrachtung dazu in Arbeit. Die Bezirksregierung als unsere Aufsicht erwartet zudem, dass wir die Bahnverbindungen zwischen Duisburg und Mülheim, zwischen Essen und Mülheim und zwischen Mülheim und Oberhausen aufrechterhalten. Wir sind vertraglich verpflichtet, noch für viele Jahre diese Strecken zu bedienen.

Es sind viele Fördermittel geflossen, die wir zurückzahlen müssten, wenn wir da aussteigen. Wir hätten angesichts des steigenden Defizits bei der MVG viel früher auf die Bremse treten müssen.

Es muss gespart werden, ich habe das Gefühl, dass die städtischen Gesellschaften da eher im Glashaus sitzen und die Chefs Gehälter kassieren, die weitaus höher sind als die in der städtischen Verwaltung.

Bonan: Auch die Stadttöchter müssen ihren Beitrag leisten, und das ist dort genauso schwer wie in allen Ämtern. Was die Gehälter der Chefs angeht, so erarbeiten wir gerade eine Aufstellung, mit der sich auch realistische Vergleiche ziehen lassen. Die Diskussion muss jetzt offen geführt werden; aber ich habe auch das Gefühl, dass hier eine Neid-Debatte geführt wird. Jeder kann sich doch auf einen Geschäftsführerposten bewerben. Wenn wir die Gehälter der Geschäftsführer stark reduzieren, frage ich mich auch, ob wir dann noch die guten Leute bekommen, die wir auf diesen Posten brauchen. Derartige Gehaltsunterschiede gibt es derzeit in fast allen Städten.

Stehen Spitzenpositionen bei Stadttöchtern nicht oft auch im direkten Zugriff der politischen Parteien, die dort dann ihre Leute hinsetzen?

Bonan: Es erfolgt keine Auswahl nach Parteibuch. Entscheidend sind Eignung, Befähigung und fachliche Leistung. Es ist eine Bestenauslese wie in den Konzernen der privaten Wirtschaft vorgesehen.

Erst haben Sie bei den Zinswetten reichlich Geld verloren und jetzt auch noch bei den RWE-Aktien, da es keine Dividende mehr gibt. Hätte die Stadt Mülheim nicht auch wie Düsseldorf, Gelsenkirchen oder Krefeld längst verkaufen sollen?

Bonan: Da bin ich anderer Ansicht. Die Städte, die verkauft haben, haben dadurch einen Einmaleffekt erzielt, der verpufft irgendwann, strukturell hat sich durch den Aktienverkauf in ihren Haushalten nichts verändert. Und ich erinnere daran, dass wir allein zwischen 2009 und 2015 rund 172 Millionen Euro an Dividende eingenommen und beispielsweise die hohen ÖPNV-Verluste teilweise finanziert haben. Wir diskutieren gerade eine andere Möglichkeit: Ende des Jahres läuft die Beteiligung des RWE (49 Prozent) an der Medl aus. Vielleicht könnten wir einen Teil der Aktien nutzen, um weitere Medl-Anteile zu erwerben.

Müsste die Stadt nicht viel stärker über das Internet mit dem Bürger kommunizieren, um so auch transparenter zu werden?

Bonan: Wenn Sie so fragen, dann haben wir Sie offenbar noch nicht erreicht. Denn Sie können heute schon alles auf der Stadtseite einsehen. Sie können Kontakt aufnehmen, Sparvorschläge bewerten und eigene Ideen einbringen und vieles mehr. Wir haben in der Vergangenheit zum Beispiel mit den Bürgern Haushaltsforen durchgeführt. Das wurde zunächst gut angenommen, später stand die Verwaltung fast allein da. Wir werden, das strebt der neue Oberbürgermeister an, künftig noch mehr über die sozialen Netzwerke kommunizieren.

Welche Perspektive sehen Sie eigentlich für eine so hoch verschuldete Stadt wie Mülheim noch? Wir können uns doch zum Beispiel nicht damit abfinden, dass täglich 1000 Menschen an der Tafel um Nahrung anstehen müssen? Hat Familienfreundlichkeit eine Perspektive angesichts der Haushaltslage?

Bonan: Allein werden wir die Schuldenlast nie loswerden. Hier kommen wir ohne Hilfe von Land und Bund nicht weiter und das bringen wir auch immer und immer wieder an den betreffenden Stellen vor, steter Tropfen höhlt hoffentlich den Stein – irgendwann …Bei allen unseren Sparbemühungen gilt zudem: Die Stadt muss lebenswert bleiben. Deshalb gilt auch das Ziel, so viel wie möglich von den Angeboten in Kultur oder Sport zu erhalten.

Wir wollen an der Familienfreundlichkeit weiter arbeiten. Wir werden darüber reden, ob das 100-Häuser-Programm fortgesetzt werden kann, das Familien hilft, ein Eigenheim zu realisieren.

Wichtig ist auch, dass wir im Kinder- und Jugendbereich präventiv arbeiten, um Fehlentwicklungen, die uns sehr teuer kommen können, erst gar nicht entstehen zu lassen. Das ist für mich intelligentes Sparen. Und: Wir dürfen nicht endlos an der Steuerschraube drehen. Gerade die Ruhrgebietsstädte liegen bereits im Hochsteuerbereich.