Thomas de Maizière sprach beim Neujahrsempfang des Bistums in der Wolfsburg über die Frage: Was braucht Integration? U.a. Zusammenhalt. Für den müsse sich jeder Einzelne in der Gesellschaft einsetzen.
Köln, Istanbul, Asylpaket, Abschiebung, Integrationskurse, NSA – nein, darüber wollte Bundesinnenminister Thomas de Maizière nicht sprechen: „Das haben Sie jeden Tag“, sagte er zu den 500 geladenen Gästen beim Neujahrsempfang in der Wolfsburg. Aus Genf ist der Minister nach Mülheim gekommen. Tagsüber noch auf einer Flüchtlingskonferenz, wurde er abends von Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck zum Neujahrsempfang des Bistums Essen begrüßt. Beide kennen sich aus Zeiten, als de Maizière Verteidigungsminister war und Overbeck Militärbischof. Und so nutzte der Minister das Forum, um abseits der Tagespolitik über die Fragen zu sprechen: „Was braucht es für eine Integration? Was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?“
Was ist die Leitkultur?
Den Zusammenhalt, den sieht de Maizière in Deutschland in Gefahr – und das nicht nur wegen der vielen Flüchtlinge, die die Gesellschaft nun integrieren soll. Er vor einem Desinteresse an der Gesellschaft, einer Verrohung der Sprache und mangelndem Respekt. Denn: „Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist mehr, als Gesetze in Sachen Flüchtlingspolitik zu machen“, betonte der Minister.
Es waren auffallend nachdenkliche Töne, mit denen sich der Innenminister an die Gäste aus Kirche, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Bistums-Akademie wandte. De Maizière hob fünf Faktoren hervor, die seiner Ansicht nach wichtig sind für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind: Sachkunde und Neugier „über das, was in der Gesellschaft passiert“, Kompromissbereitschaft, Respekt und Achtsamkeit, Auseinandersetzung und Streit sowie „Gedanken über unsere gemeinsame Identität“. „Können wir in zehn Sätzen erklären, was wir unter Leitkultur verstehen, bevor wir von anderen verlangen, sie zu akzeptieren?“, fragte der Minister. Nur das Grundgesetz anzuerkennen sowie Grundwerte wie die Meinungsfreiheit und die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sei zu wenig. Zur Leitkultur gehöre auch das besondere Verhältnis von Staat und Kirche. Er verwies auf kirchliche Trauerfeiern für gefallene Bundeswehr-Soldaten – egal ob oder welcher Konfession sie angehörten.
Eines der Grundprobleme unserer Gesellschaft sei die mangelnde Sachkunde. De Maizière sprach von einer „Bringschuld der Politik“, aber auch von einer „Holschuld der Bürger“, wenn es darum gehe, sich über wichtige gesellschaftliche Prozesse zu informieren. „Wer von Ihnen könnte den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten erklären?“, fragte der Minister die Zuhörer in Mülheim. Ohne dieses Wissen könne man den Konflikt in Syrien und der gesamten Region nicht verstehen. Der Minister warb für mehr „Neugier“. Auch der Direktor der Akademie, Michael Schlagheck, hatte in seiner Begrüßung über die Neugier gesprochen: Die „Wolfsburg“ sei ein „kirchlichen Ort für Neugierige. Kirche darf kein Raum sein, in dem aus Ängstlichkeit Neugier abtrainiert wird.“
Mit deutlichen Worten warb der Innenminister für mehr Achtsamkeit und Höflichkeit in der Gesellschaft. Gerade über das Internet – aber nicht nur dort – habe es „in den vergangenen zwei bis drei Jahren einen deutlichen Wandel zum Schlechteren gegeben“. Hier seien „Zivilisationsschranken eingerissen.“ Wie Eltern ihre Kinder ermahnten, brauche es jetzt „eine Gesellschaft, die sagt: ,Nicht in diesem Ton‘“. Dies deutlich zu machen, sei Aufgabe jedes einzelnen: „In der Kneipe, am Küchentisch, bei der Arbeit…“ Zudem sind intensive gesellschaftliche Auseinandersetzungen und politischer Streit für de Maizière Mittel, die den Zusammenhalt stärken. Konfrontationen wie die um die Wiederbewaffnung oder die Nachrüstung „haben unser Land eher zusammengeführt als getrennt“.
Geduld gefordert
Aber auch Geduld sei notwendig. Jeden Tag höre er Beschwerden darüber, dass die 360 000 Altanträge für Asylbewerber noch nicht abgearbeitet seien, dass die Verdopplelung des Personals zu wenig sei. Aber: Auch die Flüchtlinge müssten Geduld haben – wenn sie „zwei Stunden an der Essensausgabe stehen“, so der Minister.
Auch Bischof Overbeck sieht derzeit Defizite in der deutschen Gesellschaft. „Auf dem Spiel steht unsere für so selbstverständlich gehaltene westliche Lebensform. Und das nicht nur durch die Angriffe von außen, sondern auch durch die Art unserer Reaktionen darauf“, sagte Overbeck. Er spricht von einer „neuen Phase gesellschaftlicher Wirklichkeit“. Auf internationaler Ebene bewege sich „das politische Friedenswerk Europas momentan auf dünnem Eis“, weil versäumt worden sei, „die Wirtschaftsunion ausreichend sozial- und gesellschaftspolitisch abzufedern“.