Mülheim. . Hans-Werner Nierhaus, einst Lehrer an der Otto-Pankok-Schule, hat ein zweites Buch über die Historie Mülheims verfasst.

Montag für Montag frönt Hans-Werner Nierhaus, einst Geschichtslehrer an der Otto-Pankok-Schule, seiner Sammel-Leidenschaft. Eine jede Woche beginnt mit dem heiß geliebten Stadtarchiv-Tag: Der 66-Jährige blättert in Akten und Büchern, liest sich fest, schreibt ab, kopiert. Beständig erweiterte er sein Wissen über die Stadtgeschichte – und hat jetzt ein zweites Buch vorgelegt: Mülheim im Ersten Weltkrieg.

„Eigentlich bin ich kein kriegerischer Mensch“, sagt Nierhaus, und doch hat er sich nach seinem 2007 erschienenen Band „Die Stadt Mülheim an der Ruhr und der Zweite Weltkrieg 1939-1945“ auch jetzt wieder mit dem Einfluss der denkbar schlimmsten Katastrophe auseinandergesetzt. Zum einen, weil sich aus der grauenvollen Zeit viel Lehrreiches erzählen lässt, „zum Beispiel zur Frage, was Krieg mit Menschen persönlich, aber auch mit der politisch-sozialen Landschaft anrichtet“. Zum anderen, „weil wir einfach nicht verdrängen dürfen“. Bis dato habe sich noch keiner intensiv mit den Folgen des Ersten Weltkriegs für Mülheim beschäftigt, sei dieses Kapitel weitgehend ausgeblendet worden. Dabei bleibe Aufarbeitung extrem wichtig: „Weil sich so etwas nicht wiederholen darf.“

Mehr Quellen zum 1. Weltkrieg im Stadtarchiv

Erstaunlicherweise, so erzählt Nierhaus, gebe es im Stadtarchiv zu den Geschehnissen zwischen 1914 und 1918 deutlich mehr Quellen als zu jenen zwischen 1939 und 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man vieles verschwinden lassen; die Regale mit Informationen zum Ersten Weltkrieg dagegen seien gut gefüllt.

Rund ein Jahr lang hat Nierhaus für das vorliegende Werk recherchiert, „das Sammeln der Informationen war mit Abstand das Aufwändigste“. Nachdem ausreichend historisches Material angehäuft, durchgesehen und geordnet worden war, setzte sich der pensionierte Lehrer an den Schreibtisch und brachte „in sechs bis acht Wochen“ die Erkenntnisse aufs Papier. „Wenn ich einmal dran bin, dann läuft’s.“ Arbeit sei das nicht für ihn, zu spannend findet der 66-Jährige alles Historische.

Ein Ziel des Buchprojekts war es, zu klären, wie der Krieg die Stadt verändert hat. In den Jahren vor der Katastrophe habe es in Mülheim „trotz unterschiedlicher Schichten ein großes gemeinsames Verständnis gegeben“. Ob Arbeiter oder Großindustrieller, fast jeder habe sich als stolzer Mülheimer gefühlt und sich mit dem Kaiser identifiziert. Zwischen Kunden und Händlern ging es harmonisch zu.

Die Solidarität ging rasch verloren

„Der Krieg hat vieles davon zerstört.“ Das habe man schon zu Beginn aller militärischen Auseinandersetzung gespürt, „als die Preise mit einem Mal anzogen“. 1914 kostete ein Ei zehn Pfennig, vier Jahre später das Achtfache. Die Solidarität ging rasch verloren, und auch für die Stadtverwaltung waren die Zeiten nicht sonderlich rosig. „Die ohnehin knappen Nahrungsmittel wurden auch noch zentral vom Kommunalverband verwaltet“, erzählt Nierhaus. Das habe einen ungemeinen Verwaltungsaufwand bedeutet. „Der bürokratische Überwachungsstaat nahm damals seinen Anfang“, lautet eine von Nierhaus’ Thesen im aktuellen Buch.

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Der Autor hat sich zudem beschäftigt mit der Wirtschaft in der damaligen Zeit, mit der Rolle der Rüstungsbetriebe an der Ruhr. Ein anderes Kapitel berichtet von den Mülheimer Soldaten. 3500 fielen dem Schlachten zum Opfer. Nierhaus hat dafür u.a. ein in Schweinsleder gebundenes Album mit 600 Fotos ausgewertet. Geschossen hat sie ein in Frankreich eingesetzter Soldat, der von seinem Kommandeur eine der äußerst raren Foto-Erlaubnisse erhalten hatte und seinen Kindern in Mülheim mit den Dokumenten später die Schrecken jener Zeit aufzeigen wollte. Zu sehen sind u.a. Kameraden, die knapp einen Gasangriff überlebt haben und solche, die tot aus abgeschossenen Flugzeugen hingen. „Unfassbar, wie die Leute damals verheizt wurden.“

Das 19. Jahrhundert

Kaum ist das eine Projekt abgeschlossen, hat Hans-Werner Nierhaus schon ein neues in der Mache. Länger schon möchte er die Stadtgeschichte des 19. Jahrhunderts aufarbeiten. Bis dato gebe es dazu nur ein Buch von Ilse Barleben aus den frühen 1950er Jahren, „das allerdings stellt die Zeit zu idyllisch dar“. Er möchte „weniger sozial-romantisch“ berichten, einen „eher problem-orientierten Ansatz“ zu Grunde legen.

Den früheren Lehrer interessiert zum Beispiel der politische Einfluss auf die Wirtschaft und die Rolle des Bürgertums, „das auch damals schon militaristisch war und äußerst obrigkeitshörig“. Bei anfänglichen Recherchen hat Nierhaus bereits viel gelesen über die Konkurrenz-Situation zwischen Mülheim und dem heutigen Duisburg-Ruhrort. „Viele Menschen wohnten in Mülheim-Styrum, arbeiteten aber in Ruhrort beim Hafenbau.“ Die meisten von ihnen liefen morgens drei Stunden hin zum Arbeitsplatz und abends wieder drei Stunden zurück, „oft noch bepackt mit schwerem Werkzeug“.

Ruhrort zog Wirtschaftskraft ab

Der Mülheimer Bürgermeister Christian Weuste, der ab 1822 das Sagen in der Stadt hatte, habe sich aufgeregt, dass Mülheim für die Männer aufkommen musste, obwohl diese ihre Arbeitskraft anderswo einbrachten. „Die meisten von ihnen waren arme Tagelöhner, um die sich die Armenfürsorge Mülheims kümmern musste.“ Auch als der Hafen in Ruhrort dann Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts fertiggestellt war, „zog Ruhrort wieder Wirtschaftskraft aus Mülheim ab“. Etliche Kohlenhändler seien umgezogen, „weil sie dort einfach bessere Lagerplätze hatten“, berichtet Nierhaus.

Da das Thema deutlich komplexer sei als das, was er gerade abgearbeitet hat, „werde ich bestimmt fünf Jahre für die Recherche brauchen“, schätzt der Historiker. Man spreche ja gerne vom „langen 19. Jahrhundert“, das nach der Französischen Revolution 1789 seine Anfang genommen habe und erst 1918 sein Ende fand.