Mülheim. . Philosophie-Lehrer Peter Leitzen im WAZ-Gespräch über den Wunsch von Menschen, sich bei Café-Abenden über existenzielle Fragen auszutauschen.
Ostern wird die Auferstehung Jesu Christi und der Frühling mit neuem Leben gefeiert. Existenzielle Fragen und die Suche nach Sinn bewegen heutzutage Menschen. Das Wort „Leben“ steckt bereits im Namen des Lokals „La petite vie“ im Saarner Einkaufshof Bovenaan. Dort lädt Peter Leitzen zu „Philosophischen Abenden“ ein – mit riesiger Nachfrage. Über die Sehnsucht nach Fragen des Daseins spricht der Philosophie-Lehrer.
Woher kommt diese neue Ernsthaftigkeit, der Wunsch nach intensiver Auseinandersetzung mit diesen Themen?
Ich glaube, dass das gar nicht neu ist. Das haben Menschen immer getan. Die ganze abendländische Philosophie ist ein einziger Beleg dafür, dass man ein Bedürfnis hat, Sinnfragen zu stellen. Die Bemerkung von Schopenhauer, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das sich über seine Existenz wundert, und deshalb Fragen stellt, ist nicht neu. Wenn es eine Möglichkeit gibt, diesem Bedürfnis nachzugehen, nehmen Menschen dies gern an.
Die Germanwings-Tragödie lässt uns fassungs- und hilflos zurück. Gibt es Erklärungsansätze bei den Philosophen?
Auch die Philosophen macht das fassungslos. Ein Philosoph sollte nicht die Rolle des Dr. Allwissend spielen – das ist auch gefährlich. Persönlich gefragt, war meine erste Reaktion: das sieht so aus wie ein Amoklauf. Ich habe sofort an die Menschen gedacht, die in Schulen eingedrungen sind, und um sich geschossen haben: Da möchte jemand noch ein letztes Mal der Welt seine Macht demonstrieren.
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Wenn Menschen nach Erklärungen suchen, warum gibt es einerseits so viele Kirchenaustritte? Andererseits werden die sozialen Netzwerke zu Tempeln der Kommunikation.
Einige Institutionen, die über einen langen Zeitraum Antwort gegeben haben, können viele Menschen nicht mehr überzeugen. Eine Debatte um den sexuellen Missbrauch von Kindern beispielsweise – das reicht doch, um die Glaubwürdigkeit einer Institution zu erschüttern. Die Menschen merken, dass die Antworten nicht überzeugend sind, suchen nach anderen. Und manchmal ist das, was sie glauben gefunden zu haben, auch nicht viel besser.
Bei den Abenden im Café sitzt man sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Erinnern Sie sich an eine besonders anregende oder kontroverse Diskussion?
Oh ja. Beim zweiten Abend ging es um Religionsphilosophie. Angefangen von der These Hegels, dass Philosophie Gottesdienst ist, bis hin zu der Anmerkung von Nietzsche, dass vor allem Menschen mit einem religiösen Bewusstsein eigentlich schwache und hilfsbedürftige Wesen sind, und dass die einzige vermeintliche Stärke, zu der sie fähig sind, der Fanatismus ist. Da gab’s eine intensive und kontroverse Diskussion darüber, wie man damit umgeht. Ich versuche, meine Abende so anzulegen, dass es häufig Alternativen gibt, in denen man denken kann.
Die nächste Veranstaltung dreht sich um die Frage, ob der Mensch ein zum Frieden fähiges Wesen ist. Das betrifft auch die aktuellen Kriegskonflikte.
Zunächst werde ich Kant mit seinem Anliegen vorstellen. Er war kein realitätsferner Philosoph, sondern er machte sich sehr konkrete Gedanken, die bis in militärische und andere Überlegungen reichen, welche Rechtsordnung eine Welt braucht, in der es friedlich zugehen soll. Ganz spannend finde ich, dass er materielle Interessen von Menschen als möglichen Beweggrund für Friedensstiftung sieht.
Russland ein Assoziationsabkommen anbieten?
Wegen der Gier nach Geld und Rohstoffen hat es schon so einige Kriege auf dieser Welt gegeben. Schließt sich diese These nicht gegenseitig aus?
Kant sagt, dass der Handelsgeist und die Geldmacht nicht nur destruktiv zu sehen sind. Sondern wenn man miteinander handelt, dann braucht man den Partner, dann kann man ihn nicht niedermachen oder zerstören. Es gibt so etwas wie eine gegenseitige Abhängigkeit und die könnte durchaus friedensstiftend wirken.
Fällt Ihnen ein positives Beispiel dazu ein?
Wenn ich beispielsweise an die Zeit der Ostpolitik Willy Brandts denke. Als er den Vertrag von Warschau unterschrieben hat, hat er sich in seiner Fernsehansprache ausdrücklich auf Kant bezogen. Es gibt durchaus Politiker, die von den Gedanken eines Philosophen beeinflusst sind. Die Idee von Kant habe ich wieder gefunden, als die damalige Sowjetunion einen Handelsvertrag angeboten hat, der über 30 bis 50 Jahre laufen sollte. Das kommentierten manche Leute so: Wenn jemand über solch eine lange Zeit Handel betreiben will, dann will er den Partner nicht mehr im Krieg zerstören. Das wäre ein Widerspruch in sich.
Eine Brücke zur aktuellen Auseinandersetzung mit Russland?
Natürlich. Kant hätte vielleicht gesagt, dass es eventuell klüger gewesen wäre, dass man nicht nur der Ukraine die Möglichkeit zur Assoziation mit der EU angeboten hätte, sondern auch Russland.