Mülheim. Wenn eine MDK-Gutachterin die Pflegestufe ermittelt, geht es streng nach der Uhr. Doch das soll sich bald ändern.

Ortstermin im Ev. Wohnstift Raadt: Auf Wunsch des Hauses war am Donnerstag Tanja Caspers dort, erfahrene Gutachterin des MDK. Sie sollte ermitteln, ob Frau R. (80) in eine andere Pflegestufe gehört. Das Heim hatte die Höherstufung der demenzkranken Dame beantragt, das Verfahren in Gang gesetzt.

Frau R., die kurz vor Weihnachten aus dem Krankenhaus ins Wohnstift kam, hat die Pflegestufe 1. Nicht mehr angemessen, meint die Einrichtung. Und weil es bei der Ermittlung des Hilfebedarfs streng nach der Uhr geht, trägt Tanja Caspers jede Menge Zahlen in ihren Laptop ein. Die Informationen bekommt sie von Sarah Slominsky (21), Frau R.s Bezugspflegerin.

Das Interview dreht sich um Medikamente, Hilfsmittel, Einnässen und das „Gangbild“ der alten Dame, den genauen Ablauf vom Anziehen und Waschen, fünf Mahlzeiten und neun Toilettengängen rund um die Uhr. Dann wechselt die Gutachterin in den ersten Stock, wo Frau R. auf dem Gang in einem Sessel sitzt und sich nicht dazu bewegen lässt, in ihr Zimmer zu gehen. Wo man ungestörter wäre... Die Gutachterin fragt Frau R. freundlich nach ihren Geburtsdatum und ihrem früheren Beruf, reicht ihr ein Wasserglas, um zu sehen, ob sie selbstständig trinken kann, betastet ihre Knöchel, aber laufen möchte die 80-Jährige partout nicht. Nicht jetzt.

Neues Begutachtungsmodell geplant

Sarah Slominsky kennt das. Bei Frau R. schwankt die Tagesform extrem. Und die Motivation. „Manchmal lehnt sie das Aufstehen oder Zubettgehen strikt ab.“ Die Pflegerinnen müssen mehrmals wiederkommen, gut zureden. „Vor allem abends ist sie oft völlig verändert, sehr wehrig.“ Sie habe sogar schon nach der Pflegerin geschlagen.

Nach fast zweistündiger Begutachtung, Besprechung und elektronisch Auswertung gelangt Tanja Caspers zu folgendem Ergebnis: „Aufgrund der relativ hohen Zeitwerte für die Bereiche Körperpflege und Mobilität, die stark eingeschränkte Alltagskompetenz kommen wir problemlos in Pflegestufe 2.“ Dies wird sie der Pflegekasse empfehlen, die letztlich entscheidet, in der Praxis zumeist im Sinne des MDK.

Wenn alles bewilligt ist, wird das Wohnstift monatlich 1330 Euro für die Pflege von Frau R. erhalten, momentan sind es 1064 Euro. Birgit Berlik, Pflegedienstleiterin des Hauses, wirkt nicht ganz zufrieden, hält Stufe 3 für angemessen. Die Gutachterin verweist auf das, was die demenzkranke Dame noch kann, alleine essen etwa. Birgit Berlik berichtet, dass man die 80-Jährige bei den Mahlzeiten immer wieder motivieren, ermuntern müsse. „Das ist teilweise ein höherer Aufwand, als wenn man jemanden füttert.“

Doch dies wird durch das jetzige Verfahren nicht erfasst. Mit Ergebnissen, die vor allem bei Demenzkranken oft unbefriedigend ausfallen. Aus diesem Grund wird gerade ein ganz neues Begutachtungsmodell erprobt. 2017 soll es starten.

Pflegestufen-Modell soll 2017 geändert werden

Eine Pflegebegutachtung wie im Fall von Frau R.: Im Ev. Wohnstift Raadt gehört so etwas zum Alltag. Laut Einrichtungsleiter Andreas Rost finden im Haus etwa 30 bis 40 Begutachtungen jährlich statt, meist bei Neuaufnahmen, nach Krankenhausaufenthalten oder wenn sich der Zustand sichtlich verschlechtert.

Bald können sich wahrscheinlich alle Beteiligten auf ein anderes Verfahren einstellen. Im Rahmen der Pflegereform sollen ab 2017 die Kriterien geändert werden, die bisherigen drei Pflegestufen würden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Zwei bundesweite Modellprojekte gab es 2014, in denen das neue Begutachtungsassessment (NBA) getestet wurde. Der MDK Nordrhein war an diesen Probeläufen beteiligt. Auf Grundlage der Ergebnisse soll das Gesetz geändert werden.

Und zwar so, dass bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit nicht länger zwischen körperlichen und geistigen Einschränkungen unterschieden, dass stärker die individuelle Situation berücksichtigt wird. „Nach dem neuen System werden keine Minuten mehr gezählt“, erläutert Gutachterin Tanja Caspers beim Termin in Mülheim. Vielmehr wird jeweils in vier Stufen beschrieben, wie (un)selbstständig jemand in einzelnen Bereichen ist. Ferner werden neben der körperlichen Beeinträchtigung auch kognitive und soziale Aspekte einbezogen, die Betreuung nötig machen, etwa Orientierungslosigkeit, aggressives Verhalten oder die Unfähigkeit, sich selber zu beschäftigen. Der MDK erwartet und befürwortet, dass vor allem bei Demenzkranken der anerkannte Pflegegrad durch die neuen Kriterien steigt.

Auch Praktikerinnen begrüßen dies, wie Birgit Berlik, Pflegedienstleiterin im Ev. Wohnstift Raadt. Sie sagt: „Wir würden uns freuen, wenn das neue System kommt. Bewohner mit der Pflegestufe 1 brauchen manchmal im Alltag viel mehr Zuwendung als andere mit Pflegestufe 3.“

Rund 3400 Hausbesuche des MDK in Mülheim

Zuständig für Mülheim ist das Beratungs- und Begutachtungszentrum Essen des MDK Nordrhein. Dessen rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besuchen nicht nur stationäre Einrichtungen, sondern führen oft auch Pflegebegutachtungen in privaten Haushalten durch. 2014 waren es rund 3400 Hausbesuche allein in Mülheim.

Außer den Fachleuten des MDK, der für die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen arbeitet, gibt es noch weitere Gutachter. So sind etwa für die Knappschaft und für die privaten Versicherer andere Stellen im Einsatz.