Kamp-Lintfort. Seit Montag muss sich ein Kamp-Lintforter Ehepaar vor Gericht verantworten. Vorwurf: massive Vernachlässigung der 2- und 3-jährigen Töchter.

Der Vorwurf scheint ungeheuerlich: Ein junges Ehepaar soll seine beiden zur Tatzeit 2- und 3-jährigen Kinder massivst vernachlässigt haben. Chronische Unterernährung, hochgradig entzündete, blutige Windelbereiche und augenscheinlich keinerlei emotionale Bindung zur Mutter, das sind nur einige der Diagnosen, die die Kinderärztin der Gelderner Kinderschutzambulanz stellen musste, als die Kleinkinder bei ihr vorgestellt wurden. Die Vormundschaft wurde den Eltern im März 2022 entzogen. Seither leben die Kinder in Pflegefamilien. Ins Rollen kam die Angelegenheit durch einen Anruf aus der Nachbarschaft beim Jugendamt. Dort hieß es, die Kinder weinten sehr viel.

Der erste Verhandlungstag geriet zu einem Marathon. Sehr ausführlich nutzte der angeklagte Ehemann die Gelegenheit, um sich als liebender Vater darzustellen, der – als seine Frau aus gesundheitlichen Gründen nicht dazu in der Lage gewesen sei – das Frühstück gerichtet, das Mittagessen gekocht und die Mädchen habe spielen lassen oder mal auf den Spielplatz gegangen sei. Die Besuche beim Kinderarzt seien immer seine Sache gewesen, das gelbe Untersuchungsheft war ordentlich geführt. Der Arzt habe gesagt, er solle sich wegen des geringen Gewichts keine Sorgen machen. Eines der Kinder sei ein Frühchen, da komme das schon mal vor.

Solche Befunde bekommt man nicht nach zwei Wochen Magen-Darm
Rechtsmedizinerin - beurteilt die Befunde

Auch als das Jugendamt bei diesem Arzt nachfragte, hieß es, dass es wegen der Ernährung aus seiner Sicht zum Zeitpunkt – wenige Tage vor der Inobhutnahme – keinen Anlass zur Sorge gegeben habe. Erstaunlich, wenn sowohl die gutachtende Rechtsmedizinerin als auch die Kinderärztin aussagen: „So etwas habe ich in all den Jahren noch nicht gesehen.“ Die Kleinkinder hätten Blähbäuche entwickelt, wie man sie „sonst nur aus Entwicklungsländern kennt“, sagte die Rechtsmedizinerin. Und sie hatten eine starke Körperbehaarung entwickelt. Auch ein Zeichen für Mangelernährung, weil der Körper sich vor dem Auskühlen schützen wolle, so die Expertinnen. Sie und die Kollegin aus Geldern sind sich einig: „Solche Befunde bekommt man nicht nach zwei Wochen Magen-Darm.“

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Dass der Kinderarzt allerdings eine tiefgreifende Entwicklungsstörung bei beiden Kindern gesehen habe, höre er „heute zum ersten Mal“, erklärte der Vater. Warum der Hinweis, ein SPZ (sozialpädiatrisches Zentrum) aufzusuchen, hinten rüber gefallen sei? Da sollte erst mal die jüngere Tochter die Physio zu Ende bringen, damit sie besser laufen lerne. Und dann sei die Zeit gekommen, wo dem Vater „das alles über den Kopf gewachsen ist“. Er litt wohl an Depressionen, aber habe keinen Therapieplatz gefunden.

Sogar eine Hühnersuppe haben sie gekocht, sagen die Eltern

Als die Mädchen dünner wurden, habe er das auf eine anhaltende Magen- und Darmerkrankung zurückgeführt. Man habe pflanzliche Medikamente erhalten und „Schonkost“ verabreicht. Ja, so eine richtige selbst gekochte Hühnersuppe habe es gegeben, bestätigte seine Frau. Sonst hätten die Kinder immer gut gegessen: „Drei Kartoffeln, Spinat, zwei Fischstäbchen“, erklärt die Mutter vor Gericht. Warum die Kinder in der Gelderner Ambulanz freiwillig nichts angerührt haben, ja scheinbar nicht wussten, was sie mit Essen anfangen können, wie die Kinderärztin erläuterte, erklärt das nicht. Der Vater aber versichert: „Wenn ich doch nur früher gewusst hätte, dass es um meine Kinder so schlimm steht, dann hätte ich doch etwas unternommen.“

Von dem vor einiger Zeit gebrochenen und dann falsch zusammengewachsenen Mittelfußknochen bei einem der Mädchen hätten sie gar nichts mitgekriegt, sagten die Eltern aus. Die Rechtsmedizinerin dazu: „Das Kind muss starke Schmerzen und Schwellungen gehabt haben.“ Auch für die Hämatome, die die Kinderärztin vorfand, habe er keine Erklärung, meinte der Ehemann. Nur für die eine am Po. Da habe er tatsächlich „eine falsche Handbewegung gemacht“, weil das Kind so knatschig war. Aber das sei vorher und nachher nie wieder passiert.

Die Sache mit dem Chat

Warum seine Frau ihm in einem Chat dazu rät, dass eines der Kinder wohl „mal wieder was auf den Hintern“ bekommen solle – „Ja, das habe ich wohl falsch formuliert. Nicht nachgedacht“, räumte die Mutter ein. Auch dieses Geschirr, das die Polizei bei einer Hausdurchsuchung fand, habe man nur einmal benutzt, um das jüngere Kind im Zwillingswagen anzuschnallen.

Der Vater versteht auch nicht, warum es der Nebenklägervertreter komisch findet, dass kurz nach der Inobhutnahme das Kinderzimmer ausgeräumt, frisch gestrichen und mit einer Spielekonsole versehen war. „Das ist doch mein gutes Recht. Außerdem hatten wir keine Hoffnung mehr, dass die beiden so schnell wieder zurückkommen“, erklärt der Mann mit dem glatt rasierten Schädel und dem frisch gebügelten, schwarzen Hemd. Und: Stand jetzt sähen die Eltern wohl ein, dass ihre Töchter es in Pflegefamilien besser haben. Aber Umgangsrecht zu erhalten, „wenn das hier vorbei ist“, das sei das Ziel. Der Prozess wird kurz unterbrochen, als er in Tränen ausbricht.

Die Mädchen sollen danach Tapeten von den Wänden gegessen haben

An den Kleinkindern sei das alles nicht spurlos vorbei gegangen. Sie essen jetzt zwar, aber ohne Maß, manchmal sogar die Tapeten von den Wänden, wie es hieß. Vor lauter Futterneid habe man sie auch in verschiedenen Pflegefamilien unterbringen müssen. Ob sie jemals ein Sättigungsgefühl entwickeln werden können, sei zweifelhaft, so die Kinderärztin.

Dass die Mitarbeiterinnen des Jugendamts Kamp-Lintfort schnell und richtig gehandelt haben, wurde am Montag ebenfalls deutlich. Beim ersten Besuch schien alles unauffällig, alles sauber, das U-Heft ausgefüllt. Aber als der Vater die weinenden Mädchen aus dem Kinderzimmer holte und sie mit an den Tisch gesetzt habe, wurden die Jugendamtlerinnen stutzig: „Da saßen zwei Puppen. Die haben sich eine halbe Stunde nicht bewegt.“ Völlig apathisch, so beschreiben sie die Mädchen. „Ich hatte ein schlechtes Bauchgefühl“, erklärte eine von ihnen. Und schaltete die Kinderschutzambulanz ein.

Der Prozess soll am Donnerstag, 9. 30 Uhr, im Saal 106 des Moerser Amtsgerichts fortgesetzt werden.