Moers. Es ist ein sensibles Thema. Eine Mitarbeiterin im Rathaus erklärt, wie schwierig eine Beurteilung der Lage ist - und warum es mehr Fälle gibt.
Es ist ein sehr sensibles Thema. Wenn das Kindeswohl in einer Familie gefährdet ist, muss gehandelt werden. Dringend. Aber mit Bedacht. Kindeswohlgefährdung hat verschiedene Facetten. Kinder können vernachlässigt werden, emotional oder körperlich; sie können auch Gewalt erfahren. Physische Gewalt, wenn sie selbst geschlagen werden. Oder sexuellen Missbrauch. Psychische Gewalt auch dann, wenn es häusliche Gewalt unter den Eltern gibt. Wenn die Mütter von ihren Partnern misshandelt werden, geht das nicht spurlos an einem Kind vorüber. Auch dann nicht, wenn es nicht selbst Zeuge der elterlichen Schläge wird. All das brennt sich tief in die Seele eines Kindes ein.
Bettina Speier leitet bei der Stadtverwaltung Moers den Fachbereich Soziale Dienste. Sie und ihre rund 30 Kolleginnen und Kollegen kümmern sich von Amts wegen um das Wohl von Kindern in der Stadt. Im vergangenen Jahr gab es 340 Fälle, bei denen der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung bestand. Bettina Speier erklärt diese Zahl. Sie gibt die sogenannten Gefährdungseinschätzungen wieder, die im Falle von Hinweisen vorgenommen werden müssen. Wenn ein entsprechender Hinweis aus der Nachbarschaft einer Familie eingeht, in der es vier Kinder gibt, so wird für jedes dieser Kinder eine solche Einschätzung notwendig. Gezählt werden also vier Fälle.
Jedes Kind muss einzeln betrachtet werden
„Nehmen Sie beispielsweise eine völlig verdreckte Wohnung“, führt Bettina Speier an. „Für einen Säugling wird das schnell gefährlich; für einen 14-Jährigen weniger.“ Zur Beurteilung der Situation werden somit verschiedene Aspekte herangezogen. Dazu kommen durch das Landeskinderschutzgesetz geänderte Vorgaben zur Dokumentation. Früher habe das Jugendamt bei Fällen häuslicher Gewalt keine Mitteilung bekommen, wenn keine Kinder im Raum waren; heute ist das anders. Insbesondere seit den Geschehnissen von Lügde hat sich eine Menge getan. Die Polizei melde sich früher und vermehrt und überlasse die Beurteilung den Experten, heißt es.
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„Es gibt keinen Fahrplan“, sagt die Fachfrau. Man müsse jeden Fall prüfen, inwiefern „mit hoher Wahrscheinlichkeit eine hohe Schädigung“ folgt. Ist dem Vater oder der Mutter einmalig die Hand ausgerutscht oder sind Schläge ein Erziehungsmittel? Wird das Kind oft angeschrien und gedemütigt? „Ein schwieriger Job für die Kolleginnen und Kollegen“, sagt die Amtsleiterin, die sich dessen wohl bewusst ist, nicht immer zu den willkommenen Gästen in den Familien zu zählen. Ein Makel bleibt nach einem solchen Besuch ja, meinen viele.
Was passiert, wenn ein Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung bei der Stadt eingegangen ist? Zunächst bewerten zwei Kolleginnen „gewichtige Anhaltspunkte“. Zuweilen ist es ein schmaler Grat, zwischen zweifelhaften Erziehungsmethoden (Kinder sitzen stundenlang Chips essend vor dem Fernseher) und wirklicher Gefährdung zu differenzieren. Es sind stets zwei Personen mit einem Fall befasst. Der Austausch ist wichtig. Reflexion. Man fragt nach.
Es folgt die Einschätzung: Wie akut gestaltet sich der Fall? Muss sofort gehandelt werden? Nicht immer ist die Polizei schon involviert. Dann suchen die zwei Mitarbeitenden die Familien auf, schauen sich das Umfeld an, sprechen mit den Eltern, analysieren, wie sich die Kinder verhalten. „Die Familien sollen auch nicht den Augen nur einer Person ausgesetzt sein“, sagt Bettina Speier. Die Eltern werden bei der Gefährdungseinschätzung einbezogen, erklärt die Fachfrau. „Das passiert nicht über den Kopf der Betroffenen hinweg.“
Wenn klar ist, dass die Kinder sofort in einer anderen Umgebung untergebracht werden müssen, spreche man mit den Eltern, ob es beispielsweise Großeltern gibt, bei denen der Nachwuchs unterkommen kann. Speier: „Wir gucken erstmal im Umfeld.“ Sofern das nicht möglich ist, muss die Stadt Notfallplätze suchen, bei Kindern unter sechs Jahren werden Bereitschaftspflegefamilien gesucht. Beim einen wie beim anderen stößt die Stadt an ihre Grenzen. „In der stationären Jugendhilfe gibt es zu wenig Plätze“, sagt Bettina Speier. Und zu wenig Fachpersonal. Auch da. „Wir brauchen mehr Menschen und bessere Rahmenbedingungen.“
Von allen Hinweisen und Meldungen kann etwa ein Viertel als akut angesehen werden. Das heißt, dass es Gewalt gegeben hat oder Vernachlässigungen. Hier nennt die Expertin auch Fälle, bei denen ein Elternteil womöglich suchtkrank ist oder psychisch erkrankt und es keine Hilfe gibt. „Nehmen Sie eine 14-Jährige, die ihren Geschwisterkindern das Frühstück macht, die Hausarbeit übernimmt und die Erziehung“, zählt Speier auf. „Solche Kinder funktionieren sehr gut, sie wollen ja nicht auffallen.“
Das sind die Zahlen in Moers
Im Idealfall werden Schulsozialarbeiter von den Betroffenen kontaktiert. Aus städtischer Sicht ist klar, dass zunächst Schulen, Kitas und andere Institutionen selbst hinschauen müssen. Wenn das Jugendamt am Ende eingreifen muss, gelte es abzuwägen, was den größeren Schaden verursacht. „Jede Herausnahme aus der Familie ist auch eine Belastung für die Kinder“, gibt die Fachfrau zu bedenken.
Die Situation hat sich im Laufe der vergangenen Jahre verschärft. So waren es 2019 noch 155 Gefährdungsbeurteilungen, 2021 waren es 174. 2023 die besagten 340. Das hängt laut Stadt unter anderem auch mit Dokumentation und Kinderzahl zusammen, aber auch mit einer höheren Bereitschaft, hinzuschauen und seine Sorge über Kindeswohlgefährdung mitzuteilen.
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