Neukirchen-Vluyn. Siavash Khazaie saß schon einmal mit seinem Sohn im Abschiebe-Flieger. Jetzt ist der Iraner Busfahrer - und schaut voller Sorgen auf die AfD.
Es waren die schlimmsten Stunden seines Lebens und die Erinnerungen daran kommen bei Siavash Khazaie derzeit öfter hoch als sonst. Vor fast drei Jahren wird der Iraner mit seinem damals fünfjährigen Sohn frühmorgens von der Ausländerbehörde geweckt und am Frankfurter Flughafen in eine Maschine gesetzt, die ihn zurück in sein Heimatland bringen soll. Nur weil der Pilot sich weigert, den kleinen Jungen ohne seine Mutter auszufliegen, wird die Abschiebung in letzter Sekunde doch noch ausgesetzt. „Ich kann diese Geschichte nicht vergessen und jetzt habe ich manchmal wieder Angst, Deutschland doch noch verlassen zu müssen“, sagt der 42-Jährige, der seit 2018 in Neukirchen-Vluyn lebt.
Die nach dem Geheimtreffen in Potsdam enthüllten Pläne haben Khazaie geschockt. „Sie geben mir ein schlechtes Gefühl“, sagt er. Oft frage er sich nun: „Was passiert mit meiner Familie und mir, wenn die AfD gewählt wird? Welche neuen Regeln kämen dann?“ Seinen Freunden und Bekannten mit Migrationshintergrund gehe es ähnlich, viele hätten die Berichte in den Medien aufmerksam verfolgt. „Für die Kinder ist es besonders schlimm, der Sohn eines Freundes hat letztens gefragt: Papa, müssen wir jetzt auch wieder weg?“, erzählt Khazaie. Sein eigener Sohn spreche kaum persisch und kenne auch die iranische Kultur nicht, da er bereits als Kleinkind nach Deutschland kam.
Geflohen vor radikal-islamistischen Familienmitgliedern
2017 flieht die Familie hierher, nachdem sie im Iran ihr Leben in Gefahr sah. Khazaies damalige Frau - das Paar ließ sich später in Deutschland scheiden - war im Iran zum christlichen Glauben konvertiert und sah sich massiven Bedrohungen von radikal-islamistischen Familienmitgliedern ausgesetzt. Dass die Situation für Andersgläubige in dem streng muslimischen Land nicht einfach ist, ist ohnehin bekannt. In Deutschland ersucht die Familie ordnungsgemäß um Asyl, landet nach Stationen in Heidelberg, Karlsruhe, Bochum, Bielefeld und Soest schließlich im Flüchtlingsheim in Neukirchen-Vluyn. Von hier aus beginnt Khazaies damalige Frau zu arbeiten, während Khazaie Integrations- und Sprachkurse besucht. Bis zum frühen Morgen des 2. Juni 2021.
Es ist 5.30 Uhr an diesem Mittwoch im Frühling, als sich im Flüchtlingsheim die Tür von Khazaies Zimmer, das er sich mit seiner damaligen Frau und seinem kleinen Sohn teilt, öffnet. Vier Mitarbeiter der Ausländerbehörde stehen im Raum und fordern ihn auf, mitzukommen. „Ich hatte zuvor einen Abschiebebescheid erhalten, aber mein Anwalt hatte versichert, dass wir als Familie niemals abgeschoben werden würden“, sagt Khazaie. Seine Frau ist zu diesem Zeitpunkt bei der Arbeit, er kann sie nicht erreichen. Khazaie darf seine Sachen nicht selber packen und erfährt nicht, wohin es geht. Er holt seinen schlafenden Sohn aus dem Bett und landet in einem Kleinbus Richtung Frankfurt. „Darin waren Gitter, es war sehr heiß, wie im Gefängnis“, erinnert er sich. „Ich konnte nicht glauben, was passiert und dass wir ohne meine Frau weggebracht werden.“
Erst kurz vor Abflug aus dem Flieger geholt
Bis zum Mittag bietet ihnen trotz Hitze niemand Getränke oder Nahrung an, auch nicht, als sie am Frankfurter Flughafen in einen Raum gebracht werden. „Mein Sohn hat einen seltenen Gendefekt, muss lebenslang medikamentös behandelt werden“, schildert der 42-Jährige. Medizin, die er nicht bei sich hat. Immer noch erklärt niemand ihnen, was geschehen soll. „Erst im Flieger habe ich langsam begriffen, dass man uns zurück in den Iran bringen will.“
Immer wieder fragt sein aufgelöster Sohn nach seiner Mutter, bis das schließlich auch der Pilot mitbekommt. „Das war unsere Rettung“, so Khazaie. „Er hat ganz klar gesagt, dass er uns ohne die Mutter des Kindes nicht mitnimmt.“ Kurz vor dem Abflug werden die beiden noch aus dem Flieger geholt. Doch die Zeit der Unsicherheit ist noch lange nicht vorbei. Postalisch teilt ihm die Ausländerbehörde mit, dass eine erneute Abschiebung jederzeit möglich sei. Am 10. Oktober 2021 versucht die Behörde es zum zweiten Mal, doch die Familie ist nicht zuhause.
Zu diesem Zeitpunkt setzt sich Klaus Bittmann, stellvertretender Vorsitzender der Direkten Flüchtlingshilfe Neukirchen-Vluyn, schon lange für die Familie ein. Nach einer Petition im Landtag stellt der Verein als letzten Versuch einen Härtefallantrag, ein Gespräch mit der Kommission folgt. „Dort wurde unserem Anliegen zum ersten Mal wirklich Beachtung geschenkt“, sagt Bittmann. Der lange Kampf um die Aufenthaltserlaubnis lohnt sich schließlich: Im Juli 2022 erhalten die Khazaies nach 13 Monaten Ungewissheit die erlösende Nachricht , dass sie bleiben dürfen. „2025 möchten wir für Siavash den Antrag auf Einbürgerung stellen“, so Bittmann.
Weiterbildung zum Busfahrer bei der Niag
Integriert ist Khazaie ohnehin schon lange. Er arbeitet nach einer Weiterbildung seit knapp einem Jahr als Busfahrer bei der Niag, das Unternehmen unterstützte ihn beim Härtefallantrag ebenfalls. „Das macht mir Spaß und ist abwechslungsreich“, sagt Khazaie, der im Iran einen Master in Rechnungswesen erlangte. Sein Sohn geht in Neukirchen-Vluyn zur Schule, das Sorgerecht teilt er sich mit seiner Ex-Frau, die in der Kirchengemeinde sehr aktiv ist. „Ehrenamtlich hilft Siavash bei uns in der Flüchtlingshilfe, wann immer es nötig ist“, erklärt Bittmann. Viele Male fährt er nach der Flutkatastrophe ins Ahrtal, um dort mit anzupacken, kümmert sich derzeit um Flüchtlinge, die aus der Ukraine gekommen sind. Unterstützt wird er dabei von seiner neuen Partnerin Olga, die vor einigen Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam.
„Sie hat mir in den schwierigen letzten Jahren sehr geholfen“, sagt Khazaie. Auch über die aktuellen Geschehnisse tauschen sie sich aus. „Ich kann gar nicht glauben, dass es wirklich so eine Partei und Menschen gibt, die die AfD wählen wollen“, sagt er sichtlich aufgewühlt. Bislang sei er in Neukirchen-Vluyn nie angefeindet worden. „Ich habe bisher nur nette und hilfsbereite Deutsche kennengelernt.“
„Das ist mein Zuhause“
Es war ein langer Weg zu mehr Stabilität und Sicherheit in Siavash Khazaies Leben. Die will er nicht mehr verlieren, deswegen trat er vergangene Woche auch bei der Demo am Vluyner Platz auf. „Ich war vorher sehr aufgeregt, aber so viele Menschen zu sehen, die genauso denken, hat mein Herz gewärmt“, so Khazaie. Er hofft, nie wieder der Angst ausgesetzt zu sein, das Land von jetzt auf gleich verlassen zu müssen. „Das ist mein Zuhause.“