Moers/Duisburg. Am zweiten Prozesstag wurde die Einschätzungsfähigkeit des Rasers untersucht, der eine unbeteiligte Moerserin tötete. Was ein Gutachten ergab.
Am zweiten Verhandlungstag der erneuten Revision des Raserprozesses hat die Kammer des Landgerichts Duisburg am Mittwoch, 13. September, die Frage beschäftigt, ob der Angeklagte in der Lage war, die Gefahr seines Handelns bei der Unfallfahrt in Moers einzuschätzen. Diese Frage ist ausschlaggebend für das Strafmaß zwischen Mord und der Verurteilung allein für die Teilnahme an einem unerlaubten Autorennen. Am Ostermontag 2019 beschleunigte Kushtrim H. einen Mercedes AMG im Duell gegen einen Freund auf dem linken Fahrstreifen der Bismarckstraße auf bis zu 167 km/h. Trotz einer Vollbremsung raste er noch mit 105 Stundenkilometern in das Fahrzeug einer unbeteiligten Moerserin, die in der Folge verstarb.
Wie beim Prozessauftakt angekündigt, ließ der Angeklagte keine Nachfragen der Kammer zu. Über seine Verteidigung ließ er verlauten, dass er den schweren Unfall durch eine Wettfahrt verursacht hatte und ihm bewusst gewesen sei, dass seine Fahrweise gefährlich war. Die Bismarckstraße habe Kushtrim H. als geeignete Rennstrecke ausgemacht, da sie eine Haupt- und Vorfahrtsstraße ist, die „schnurgerade verläuft und sehr weit einsehbar ist“. Zudem habe er am Ostermontag nach 22 Uhr nicht mehr mit anderen Fahrzeugen gerechnet, so die Verteidigung. „Keine anderen Fahrzeuge zu erwarten, das ist eine Ansage“, reagierte der vorsitzende Richter Mario Plein, der daraufhin den amtlichen Berichterstatter des ersten Revisionsprozesses vor dem Landgericht Kleve als Zeugen befragte.
Moerser Raserprozess: Gutachter sieht keine Intelligenzminderung bei Angeklagtem
Er war Teil der Kammer, die am 7. Juni 2021 die Strafe von lebenslanger Haft wegen Mordes zu vier Jahren änderte. „Wir hatten den Eindruck, dass die Fähigkeit, Gefahren einzuschätzen, bei dem Angeklagten unterentwickelt war“, berichtet der Zeuge. Dies begründet er damit, dass der Unfallfahrer, der keine Fahrerlaubnis besitzt, vier Mal durch die theoretische Führerscheinprüfung gefallen ist. Gründe für das Scheitern wurden beim Verfahren in Kleve jedoch nicht überprüft. Ebenfalls bestätigte der amtliche Berichterstatter auf Nachfrage des Rechtsanwaltes, der die Familie des Opfers als Nebenkläger vertritt, dass es keine Erkenntnisse darüber gebe, dass der Angeklagte bei seinem früheren Nebenjob als Pizzakurier mit dem Fahrrad in der Duisburger Innenstadt Schwierigkeiten im Straßenverkehr oder gar Unfälle hatte.
Ob H. die möglichen Konsequenzen einschätzen konnte, ist entscheidend für die Frage nach dem Vorsatz seines Handelns und somit für eine etwaige Verurteilung wegen Mordes. Ein psychiatrisches Gutachten nach Aktenlage, das ein Sachverständiger vorstellte, ergab jedenfalls keine Hinweise auf eine eingeschränkte Fähigkeit zur Einsicht. So gebe es bei dem Angeklagten keine Anhaltspunkte für eine Alkohol- oder Drogensucht, psychische Erkrankungen oder eine Intelligenzminderung.
Moers: Raser wollte sich nach dem Unfall in einem Café vor der Polizei verstecken
Neben der Fähigkeit, die Gefahren des Rennens im Vorfeld zu erkennen, beschäftigte die Kammer auch das Verhalten des Angeklagten im unmittelbaren Anschluss an die Tat. Dafür rief sie einen Mitarbeiter eines Cafés an der Jahnstraße, wo sich Kushtrim H. nach dem Unfall vor der Polizei verstecken wollte, in den Zeugenstand. Der Mann berichtet, dass der fremde junge Mann „adrenalingeladen, ängstlich und hektisch“ in den Garten des Lokals gerannt war, wo er ihn konfrontierte.
Dort erzählte H. von einem „kleinen Unfall“, an dem er ohne Führerschein beteiligt gewesen sei. Laut dem Protokoll der Vernehmung des Café-Mitarbeiters habe der Unfallfahrer sogar gesagt, ihm sei die Vorfahrt genommen worden. Daran konnte sich der Zeuge nach vier Jahren jedoch nicht mehr erinnern, wie er sagte. Was er noch weiß: Nach mehrfacher Aufforderung zu gehen, ließ H. Teile seiner Kleidung zurück und flüchtete über die Zäune des Hinterhofes. Kurz darauf alarmierte der Zeuge die Polizei.
Beim voraussichtlich letzten Prozesstag am Freitag, 22. September, will die Kammer des Landgerichts klären, ob es möglich gewesen wäre, die linke Spur nach dem Überholen wieder zu verlassen. Im Anschluss wird das Urteil erwartet.
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Mit einem orangefarbenen Aktenordner verdeckte der Angeklagte Kushtrim H. sein Gesicht, als er den Saal 201 des Duisburger Landgerichts am Dienstagmorgen zum Auftakt der erneuten Revision des Moerser Raserprozesses betrat. Mit gesenktem Blick verfolgte der 25-jährige Homberger anschließend, umgeben von seiner Verteidigung, wie die Kammer um den vorsitzenden Richter Mario Plein die Details des tödlichen Autorennens am Ostermontag 2019 verlas.
Auf der Bismarckstraße im Moerser Ortsteil Meerbeck testete H. den hochmotorisierten Mercedes AMG seines Bruders (612 PS) bei einem illegalen Rennen mit seinem Freund Ismail S. – und raste mit einer Geschwindigkeit von 105 Stundenkilometern in das Fahrzeug einer unbeteiligten Moerserin, die auf die Bismarckstraße abbog. Die 43-jährige Ehefrau und Mutter zweier erwachsener Kinder verlor sofort ihr Bewusstsein, wurde aus ihrem Auto geschleudert, verlor große Mengen an Blut und starb wenige Tage nach dem Unfall an einem Hirninfarkt.
Raserprozess Moers: Erneute Revision – Staatsanwaltschaft sieht Gleichgültigkeit bei Angeklagtem
Bei der ersten Verhandlung hatte die Kammer des Landgerichtes Kleve den Angeklagten noch des Mordes schuldig befunden, Kushtrim H. erwartete eine lebenslange Freiheitsstrafe. Seine Verteidigung legte Einspruch gegen das Urteil ein – mit Erfolg. Bei einer Neuauflage des Verfahrens am 7. Juni 2021 sorgte die Streichung des Tatbestandes Mord dafür, dass das Urteil deutlich milder ausfiel: Die Verkündung der Strafe von vier Jahren Haft für die Teilnahme an einem illegalen Straßenrennen mit Todesfolge hatte im Saal für Jubel unter den Angehörigen des Angeklagten gesorgt. Dieser wird jedoch spätestens im Februar dieses Jahres verstummt sein als der Bundesgerichtshof das Urteil kassierte und einer erneuten Revision, diesmal angefordert durch die Staatsanwaltschaft und die Angehörigen des Opfers als Nebenkläger, vor dem Landgericht Duisburg stattgab.
Bei dem nun eröffneten Verfahren steht zusätzlich zur Verurteilung wegen der Teilnahme an einem unerlaubten Straßenrennen erneut eine Verurteilung wegen Mordes mit dem Höchststrafmaß im Raum. Ziel der Kammer ist es, im Laufe des Prozesses zu prüfen, ob ein Gefährdungsvorsatz bestand. Hieran hat zumindest die Staatsanwaltschaft keinen Zweifel, wie aus der Anklageschrift hervorgeht. Der Angeklagte habe eine Gefahr für Leib und Leben und somit auch den Tod der Moerserin „billigend in Kauf“ genommen, heißt es. Dass Kushtrim H. die linke Spur nicht verließ, auch nachdem er seinen Kontrahenten deutlich überholt hatte, deutet die Anklage als Gleichgültigkeit. Dass der heute 25-Jährige zum Tatzeitpunkt nach viermaligem Scheitern in der theoretischen Prüfung keinen Führerschein hatte, ändere nichts an dessen Bewusstsein über die Konsequenzen seines Handelns, so die Staatsanwaltschaft.
Prozess in Duisburg: Angeklagter will nach tödlichem Unfall in Moers schweigen
Unmittelbar nach dem Unfall am Abend des 22. April 2019 hatte sich H. vom Tatort entfernt, war für einige Tage untergetaucht und stellte sich erst nach einer Öffentlichkeitsfahndung der Polizei. Ismail S., mit dem sich Kushtrim H. bereits am Mittag des Unfalltages mit der WhatsApp-Nachricht „Gleich AMG vs. Range Rover?“ zu dem Rennen verabredet hatte, war in erster Instanz zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden. Voraussichtlich wird er im Frühjahr 2025 aus dem Gefängnis entlassen.
Der Prozess wird am Mittwoch, 13. September mit Aussagen mehrerer Zeugen und Sachverständigen fortgesetzt, ein Urteil wird für am Freitag, 22. September, erwartet. Die Verteidigung kündigte bereits an, dass der Angeklagte sich lediglich mit einer schriftlichen Erklärung äußern, nicht aber auf Nachfragen antworten werde. Nicht an dem Prozess teilnehmen werden die Angehörigen des Opfers. „Der Prozess der Verarbeitung ist noch nicht abgeschlossen“, berichtet Rechtsanwalt Christian Stieg, der die Familie vor Gericht vertritt.