Herne. . Nurten Özcelik ist als eines von acht Kindern an der Lützowstraße in Horsthausen groß geworden. Die 43-Jährige eriinert sich gerne an die Gemeinschaft im Stadtteil.
Als Nurten Özcelik vor ihrem Elternhaus steht, ist alles wieder da. Die Lützowstraße in den 70er Jahren, wo sich im Haus Nummer 44 und drumherum türkische und deutsche Familien als Nachbarn fühlten. „Hier unten war eine Bude“, erinnert sie sich. „Anrufe aus der Türkei kamen da an.“ Auf dem Mäuerchen davor reihte sich die Jugend auf, die männliche, wohlgemerkt, während die türkischen Mädchen mit den Frauen im Hof auf Decken saßen und häkelten, „für die Aussteuer der älteren Geschwister“. Eine Rollenverteilung, über die das Kind sich schon damals zu wundern begann. Und trotzdem: „Das war schön hier. Ich vermisse diese Gemeinschaft.“
„Da oben habe ich meinen Zettel für das Christkind auf die Fensterbank gelegt.“ Nurten Özcelik zeigt auf das mittlere Fenster in der zweiten Etage. Dahinter befand sich das Wohnzimmer der zehnköpfigen Familie. Der Vater stammt aus Zonguldak, wie viele Zuwanderer damals. Er arbeitete auf der Zeche Blumenthal in Recklinghausen. Zuerst lebte die Familie in Pantringshof, wo Nurten auch geboren wurde. Vom Christkind hatte die Lehrerin erzählt - doch zu Nurten kam es nicht, die moslemischen Eltern hatten das Briefchen nicht wahrgenommen. Die heute 43-Jährige erinnert sich gut an ihren Schmerz: „Ich habe mich gefragt, was habe ich falsch gemacht?“
Den Hof hinter dem Haus erkennt sie kaum wieder. „Hier standen Ställe, mit Fahrrädern und Kohlen.“ Vorne wurde Wäsche aufgehängt. Sehnsüchtig blickte das Kind damals über den Maschendrahtzaun: „Ich habe mich gefragt, warum die da drüben grüne Wiese haben und wir nur schwarze Erde.“ Und warum die Deutschen in der Siedlung jenseits des Zauns keine türkischen Kinder auf ihrem schönen Spielplatz sehen wollten.
In der eigenen Nachbarschaft dagegen sei man füreinander da gewesen, sagt Nurten Özcelik. „Wenn einer Geld brauchte, weil weil er eine Beerdigung oder eine Hochzeit hatte oder dringend in die Türkei fliegen musste, wurde gesammelt.“ Das deutsche Ehepaar in der ersten Etage nannte sie „Oma und Opa“. Ganz von selbst lernte Nurten Deutsch. So gut, dass sie von der Diedrichstraße, wo ein türkischer Lehrer die Kinder der Migranten unterrichtete, an die Langforthstraße empfohlen wurde, in eine „richtige“ Klasse, mit deutschen Kindern.
Später war sie „das erste türkische Mädchen in Horsthausen, das nicht zur Hauptschule gegangen ist. Deshalb haben sie ,Professor’ zu mir gesagt“, amüsiert sich die Sparkassen-Angestellte. Trotz guter Noten landete sie auf der Realschule. „Man hat uns vieler Möglichkeiten beraubt“, so sieht sie es heute. Auch an Klassenfahrten nahmen die Mädchen nicht teil, von den Lehrern nicht hinterfragt. Nur wenigen sei es wie Inci ergangen, die Verkäuferin werden wollte. Von ihrem Lehrer ermutigt, habe sie am Ende Geschichte studiert.
Der Schulweg von der Lützowstraße zur Grundschule ist heute durch Häuser versperrt. Er führte vorbei an der Neuapostolischen Kirche („die war mir unheimlich mit den Fenstern“), den Berg hinauf und durch den Tunnel. „Den Weg ging meine Mutter auch donnerstags zum Markt in Elpeshof.“
Wohl genauso oft wie zur Schule bog Nurten Özcelik in die andere Richtung ein, zur früheren Moschee an der Scharnhorststraße, vorbei an dem Gasthaus an der Kreuzung. „Da haben wir uns am Dreikönigstag Bonbons abgeholt.“ Zum Zuckerfest klingelten die Kinder bei den türkischen Familien und kehrten mit Tüten voller Süßigkeiten zurück.
1989 ist die VIKZ-Gemeinde mit ihrer Moschee in das Eckhaus eingezogen. Vor der Tür läuft uns Süleyman Tefenli über den Weg. Der Vorsitzende der Gemeinde schaut drinnen nach dem Rechten, wo Bauarbeiter nach dem Brand vor einiger Zeit den Gebetsraum neu herrichten. Auch er ist ein Nachbar aus Kindertagen. „Er wohnte ein paar Häuser weiter“, erzählt Nurten Özcelik.
Längst lebt sie nicht mehr in Horsthausen sondern in Wanne-Süd, ist im Integrationsrat engagiert und seit diesem Jahr die einzige Stadtverordnete der SPD mit Migrationshintergrund. Dem Stadtteil ihrer Kindheit bleibt sie innerlich verbunden. Und sie freut sich immer, wenn sie hört: „Ach, du kommst auch aus Horsthausen?“