Herne. . Dass das Votum der SPD-Basis mit über 75 Prozent pro „GroKo“ so deutlich ausfällt, hätten wohl nur wenige gedacht. Michelle Müntefering sieht ihre Partei innerlich gestärkt, Ingrid Fischbach (CDU) ist froh, nun endlich regieren zu können. Die Linke will die 25 Prozent „Nein“-Sager für sich gewinnen.
Ab jetzt ist Große Koalition. Mit überraschend klarer Mehrheit von gut 75 Prozent haben sich die Sozialdemokraten für ein Bündnis mit der Union ausgesprochen. Bei den Herner Abgeordneten und SPD-Mitgliedern herrscht darüber vor allem eins: Erleichterung. Aber nicht nur bei den Genossen, die sich plötzlich als Vorreiter eines modernen Demokratieverständnisses sehen, sondern auch bei der CDU. Hier freut man sich, nun endlich regieren zu dürfen.
„Das Ergebnis gibt uns Rückendeckung und hat die Partei innerlich gestärkt“, sagt die neue Herner Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering. Die Befragung der Basis habe „Leben in die Bude“ gebracht und die innerparteiliche Demokratie gestärkt. „Die SPD ist eine moderne Mitmach-Partei. Ich bin froh, dass wir die Kurve gekriegt und nun Klarheit haben“, sagt Müntefering. Trotz des klaren Votums soll das Instrument des Mitgliederentscheids aber eine Ausnahme bleiben. „Es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein“, so Müntefering, „aber man darf auch keinen Automatismus daraus machen.“
Hernes SPD-Chef Alexander Vogt hebt den hohen Beteiligungsgrad hervor: „Das Votum war ein voller Erfolg. Die Zahl von 370 000 Stimmen zeigt, dass wir auf der Höhe der Zeit sind und dass man Demokratie weiterentwickeln muss. Wir haben damit einen Maßstab gesetzt.“ Inhaltlich hatte Vogt seine persönliche Zustimmung zum Koalitionsvertrag davon abhängig gemacht, wie finanziell angeschlagenen Kommunen geholfen werden soll. Allen Abstrichen zum Trotz seien die in Aussicht gestellten Mittel für die Infrastruktur oder der angedachte Zuschuss zur Eingliederungshilfe aber positiv zu bewerten, so Vogt.
Kritiker der Großen Koalition verstummen
Er ist nicht der Einzige, der sich vom Kritiker zum Befürworter der „GroKo“ gewandelt hat. „Im Nachhinein bin ich sehr zufrieden mit dem Ergebnis“, sagt Gerhard Wippich, Vorsitzender des SPD-Ortsvereins Wanne-Süd, der ursprünglich gegen eine Koalition mit der Union war. „Im Koalitionsvertrag steckt aber viel mehr SPD drin als vorher zu sehen war“, sagt Wippich und hofft, dass viele Vorhaben wie der Mindestlohn oder die Rente mit 63 schnell umgesetzt werden. Auch er findet, dass der Mitgliederentscheid seiner Partei genutzt habe: „Die Genossen sind sehr politisiert, und das Interesse an der SPD ist gestiegen.“ Das Wagnis habe sich gelohnt, meint Wippich und erinnert an Willy Brandt, der am Mittwoch 100 Jahre alt geworden wäre und schon vor über 40 Jahren forderte: „Mehr Demokratie wagen!“
Auch Münteferings Vorgänger in Berlin, Gerd Bollmann, freut sich über das Votum der SPD-Basis. „Ich war anfangs vorsichtig, aber ich bin mit der Entscheidung rundum zufrieden. Das ist eine dolle Sache.“ Bollmann lobt den Mut der SPD-Führung, weil die Stimmung in den Ortsvereinen oft nur schwer einzuschätzen sei.
CDU sieht Mitgliederentscheide kritisch
Einigkeit herrscht darin, dass der Vertrauensvorschuss in die Große Koalition zurückgezahlt werden muss. Deshalb ist die CDU-Abgeordnete Ingrid Fischbach froh, „dass wir endlich mit der Regierungsarbeit beginnen können.“ Einen Mitgliederentscheid kann sie sich in ihrer Partei nur schwer vorstellen: „Die Basis muss ganz klar stärker einbezogen werden, etwa bei der Diskussion des Wahlprogramms. Aber wenn in Zukunft immer über jedes Detail abgestimmt wird, wird das Abgeordnetensystem ad absurdum geführt.“
Auch der Herner CDU-Vorsitzende Markus Schlüter meint, dass man „sonst immer direkt Volksentscheide durchführen“ könne. In Sachen Basisdemokratie sei die CDU in Herne aber längst Vorreiter. Anders als die SPD habe man schon vor Jahren das Delegiertensystem abgeschafft. Die Risikobereitschaft der SPD-Führung verdiene aber Anerkennung: „Ich habe nicht gedacht, dass das Ergebnis so deutlich ausfällt.“
Im Moment fühlen sich alle als Gewinner
Ab jetzt ist also Große Koalition. Im Moment sind alle Gewinner. Die Union, weil sie die Wahl gewonnen hat und mit Abstand stärkste Partei im Bundestag ist. Und die SPD, weil sie vom Wahlverlierer zum vermeintlichen Partner auf Augenhöhe mutiert ist. Abzuwarten bleibt, wer in vier Jahren noch Grund zum Jubeln hat.
Es waren große Worte, die Sigmar Gabriel wählte: „Wir sind die Beteiligungspartei in Deutschland“, sagte der SPD-Parteichef bei der Bekanntgabe des Votums. Dabei gibt es eine Partei, bei der Basisbeteiligung schon immer groß geschrieben wurde: die Grünen. Hat Gabriel also nur bei seinem ehemaligen Bündnispartner abgeguckt?
SPD hat von den Grünen gelernt
„Ich finde es gut, wenn die SPD als große Volkspartei jetzt auch mehr Basisbeteiligung wagt“, sagt Raoul Rossbach, Grünen-Kreisgeschäftsführer und Mitglied im Landesvorstand. „Wir setzen uns grundsätzlich für mehr Basisdemokratie ein und sind Vorreiter auf diesem Gebiet“, stellt er klar. „Ich persönlich finde die Idee richtig, es so durchzuziehen“, sagt er über den Mitgliederentscheid der SPD. Rossbach kann sich gut vorstellen, dass das neue Modell Schule macht, „besonders bei Bündnissen jenseits der klassischen Partner.“
Rot-Rot-Grün im Bund wäre etwa so ein Fall. Bevor es soweit kommt, müsse sich an der SPD-Spitze aber „grundlegend etwas ändern“, sagt Markus Dowe, Kreissprecher der Linken in Herne. Die SPD habe sich ohne Not von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit verabschiedet und die Chance auf einen Politikwechsel verpasst. SPD-Mitglieder, die sich gegen die „GroKo“ ausgesprochen haben, sollten das Parteibuch wechseln, rät Dowe. Über Koalitionsverträge sollten aber nach wie vor Parteitage entscheiden, „weil man dort die Inhalte diskutieren und nicht nur Ja oder Nein ankreuzen kann“, so Dowe.