Herne. . Im Interview zieht der Herner Historiker Ralf Piorr (47) eine Bilanz seiner WAZ-Serie „Nazis in Herne und Wanne-Eickel“ Bilanz, äußert sich zu aktuellen Formen des Gedenkens und spricht über neue Projekte.
Ralf Piorr gilt als Experte für die NS-Zeit in Herne und Wanne-Eickel. Warum, das hat der Historiker in diesen Tagen einmal mehr bewiesen.
Für die WAZ hat er aktuell die Serie „Nazis in Herne und Wanne-Eickel“ geschrieben. Mit der DGB-Geschichtswerkstatt hat er einen historischen Stadtführer zur NS-Zeit herausgegeben. Er hat für die Stadt die neue Gedenktafel an der ehemaligen jüdischen Synagoge in Wanne-Eickel vorbereitet und mit Schülern die Inhalte der Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Herrschaft erarbeitet. Im Interview mit der WAZ nahm er zu diesen und anderen Themen Stellung.
Warum ist es 68 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur noch immer wichtig, sich aktiv mit dieser Zeit zu befassen?
Ralf Piorr: Weil vieles jetzt erst möglich wird. Zum Beispiel konnten wir erst nach der Insolvenz der Firma Heitkamp, die Gedenktafel ans Grundstück der ehemaligen Synagoge in Wanne-Eickel bringen. Früher haben das Heinrich und Robert Heitkamp beziehungsweise die nachfolgende Firmenpolitik verhindert. Es ist bekannt, dass das Familienunternehmen eine ausgeprägte Nähe zu völkisch-nationalen Kreisen und damit indirekt auch zur NPD pflegte. Aber er war halt auch der mächtigste Mann in Wanne-Eickel, da hat sich jeder geduckt. Das Nächste ist: Was in dieser Zeit konkret in unseren Städten passiert ist, und darum geht es ja im Stadtführer, in der Serie und vielen Aktivitäten, ist den meisten völlig unbekannt. Namen wie Viktor Reuter, Karl Hölkeskamp und Robert Brauner kann kaum jemand historisch verorten. Die Arbeit der Geschichtswerkstatt soll genau diese Lücken füllen: Namen, Geschichten, Orte werden präzise benannt, genauso wie Opfer und Täter. Alles was in der NS-Zeit stattgefunden hat, hat es auch in Herne gegeben. Ich stehe persönlich nicht auf „Betroffenheitspädagogik“ und rhetorische Floskeln à la „Wir müssen aus der Geschichte lernen“. Ich möchte Geschichten erzählen und eine Erinnerung etablieren, die nicht ständig für irgendetwas instrumentalisiert wird. Haben Sie das Gefühl, dass die aktuellen Aktivitäten und Bemühungen auch in der Bevölkerung ankommen? Oder besteht nicht immer auch die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit dieser Zeit zum Ritual wird?
Das glaube ich nicht, weil wir ja auch immer wieder neue Angebote schaffen. Außerdem kommen viele Anregungen aus der Bevölkerung. Bei einigen Geschichten waren die Familien regelrecht dankbar dafür, dass endlich auch ihr von den Nazis ermordeter Großvater gewürdigt wird. Generell wird der Nationalsozialismus immer anders wahrgenommen werden als die Kaiserzeit oder die Weimarer Republik. Es gibt da auch einen „Schauer-Effekt“. Man interessiert sich dafür, weil man sich nicht vorstellen kann, wie es zu diesen Verbrechen kommen konnte. Und jeder ist über die Familiengeschichte persönlich involviert.Anders ist nur dadurch geworden, dass die Generation der direkt Beteiligten mittlerweile gegangen ist. Das macht vieles auch einfacher.
Sie forschen schon viele Jahre zur NS-Zeit. Erlebt man als Historiker trotzdem noch Überraschungen bei den Recherchen oder bewegt sich das immer im gleichen Muster?
Nein. Die Arbeit liefert mir immer wieder neue Aspekte. Die NSDAP war Anfang 1930 in unseren Städten eine belächelte Splittergruppe mit weniger als 100 Mitgliedern. Dem gegenüber stand eine gut organisierte und dominante Arbeiterbewegung – von den Kommunisten bis zur katholischen Arbeiterbewegung. Was dann völlig erstaunlich ist und was ich bis heute nicht erklären kann, ist, wie nach dem Januar 1933 alle demokratischen Systeme innerhalb weniger Monate fallen. In den Prügelkellern gingen die Nazis brutal gegen die Opposition vor, und der Rest ließ sich ohne Widerstand gleichschalten: von der Verwaltung bis zum Turnclub, der sogar schon den Arier-Paragraphen einführte, bevor es überhaupt verlangt wurde. Das zeigt, welche gesellschaftliche Resignation es gegenüber dem demokratischen System gegeben haben muss. Man weiß ja, wie schwierig es heute noch ist, wenn man in einem Verein neue Strukturen schaffen will. Es gibt Seilschaften und Verbindungen. Und damals kippte es plötzlich alles. Das ist für mich unerklärlich.
Ich finde es sehr überraschend, wie wenig die dunklen Seiten der Flottmann-Geschichte und die Verstrickungen in der NS-Zeit bisher Thema in der Stadt waren. Warum ist das niemals breiter diskutiert worden?
Dass jemand ein bedeutenderErfinder ist, ein Unternehmer, der früh in die Sozialfürsorge seiner Belegschaft investiert hat, gleichzeitig aber auch Nazi ist, das ist für viele schwer zu verstehen. Otto Heinrich Flottmann war überzeugter Nazi. Er war es, als die politischen Gegner ins KZ kamen; er war es, als die Synagogen brannten; er war es, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte und als die Deportationszüge in den Osten losfuhren. Gleichzeitig schafft das Werk gute Arbeitsplätze und vorbildliche Werkswohnungen. Dass über die belastete Vergangenheit nicht geredet wurde, dafür sorgte eben auch sein Sohn: Friedrich Heinrich Flottmann. Er ließ – auch aus Eigeninteresse – Kontakte spielen, die Firmengeschichte bereinigen. Die Presseabteilung glorifizierte die „göttliche Schöpferkraft“ der Flottmann-Männer und bügelte alle Widersprüche glatt. Und die Mitarbeiter gaben sich dieser zum Teil verlogenen Werksidentität hin. Mythos und Wahrheit der Flottmann-Werke ist jedenfalls eine der spannendsten Geschichten in Herne.
Es gab 1986 in Herne einen Antifaschistischen Stadtführer von der GEW und der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, in dem bereits gefordert wurde, Flottmann die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. War die Zeit damals noch nicht reif dafür oder kam die Forderung aus der „falschen Ecke“?
Die Zeit war wohl noch nicht reif dafür, die alten Verdrängungsmechanismen noch zu stark. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich ein unausgesprochener Kompromiss: Wiederaufbau und Wirtschaftswunder fanden im Zeichen einer umfassenden Verdrängung statt. Dieser Übereinkunft fühlte sich auch ein Mann wie Robert Brauner verpflichtet, der in der NS-Zeit in Haft war. Andere wie Oberstadtdirektor Edwin Ostendorf, der vermutlich selbst „Parteigenosse“ gewesen war, wollten aus verständlichen Gründen lieber die Vergangenheit begraben. Oder die Biographie von Oberstadtdirektor Hermann Meyerhoff: Ausgebildet im Kaiserreich, Stadtkämmerer und Bürgermeister in der Weimarer Republik, bei den Nazis in Funktion geblieben, anschließend von den Alliierten zum Oberstadtdirektor gemacht. Der Mann hat vier Systeme durchlaufen. Er war nicht in der NSDAP, aber gerade diese scheinbar „unpolitischen“ Verwaltungsexperten haben viel zur Funktionstüchtigkeit des NS-Systems beigetragen.
Es gab auch vereinzelt Kritik daran, dass Otto Heinrich Flottmann vom Rat die Ehrenbürgerschaft formal aberkannt worden ist. De facto ist diese ja schon mit dem Tod Flottmanns erloschen. Warum ist ein solches Signal aus Ihrer Sicht wichtig und notwendig?
Das Thema Ehrenbürgerschaften wird schon seit den 70er Jahren kontrovers diskutiert. Auf den ersten Vorstoß, Adolf Hitler in Herne und Wanne-Eickel die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen, hat die Stadtverwaltung formal juristisch reagiert und gesagt: Das müssen wir gar nicht mehr, Hitler ist tot. Dann musste man aufgrund des öffentlichen Drucks die Position revidieren und hat 1984 per Ratsbeschluss Hitler die Ehrenbürgerschaft aberkannt. Seitdem stand diese politische Entscheidung in einem Missverhältnis zu den anderen Ehrenbürgerschaften der NS-Zeit: Bei Hitler hatte man sie explizit aberkannt, aber zuHindenburg und Flottmann geschwiegen. Erst jetzt wurde diese Inkonsequenz durch die Initiative des Oberbürgermeisters sauber bereinigt. Wichtig ist auch: Die Flottmann-Hallen sind ein überregional bedeutender Kulturort, mit dem die Stadt Herne verbunden wird. Die Entscheidung hat nun auch zur Folge, dass in den Flottmann-Hallen eine kleine Ausstellung präsentiert werden wird, die die „braunen“ Verstrickungen des Unternehmens nicht leugnet. So wie es bisher der Fall war.
Wanne-Eickel und die Nazi-Zeit
Die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften aus der NS-Zeit ist ein symbolischer Akt, ebenso die Aufstellung der Gedenktafel an der ehemaligen jüdischen Synagoge in Wanne-Eickel. Sehen Sie darüber hinaus in Herne Handlungsbedarf, in ähnlicher Weise tätig zu werden und Zeichen zu setzen? Gibt es weitere Baustellen dieser Art?
Es gibt durchaus noch Baustellen. Ein Problem ist jedoch die schlechte Quellenlage. Die Nummerierung der Cranger Kirmes ist beispielsweise ein Skandal. Die Integration des Nationalsozialismus war nicht nur der politische Terror, es gab auch eine andere Seite: Feste, Feiern und glanzvolle Aufmärsche spielten bei der Vereinnahmung breiter Bevölkerungsschichten eine große Rolle. In Herne gab es 1934 auf Initiative des NS-Oberbürgermeisters Albert Meister ein „100-jähriges Schützenfest“. Es ist durchaus plausibel, dass dies die Initialzündung dafür war, ein Jahr später in Wanne-Eickel die 500. Cranger Kirmes zu feiern. Die Nummerierung war völlig hanebüchen, was allen klar war. Deshalb wurde diese Zählung nach dem Krieg auch nicht weitergeführt. Erst 1990 ist jemand bei der Stadt Herne, wahrscheinlich aus der Marketingabteilung, darauf gekommen: Wir könnten ja jetzt die 555. Cranger Kirmes feiern. Seitdem wird brav gezählt.
Sie haben die schlechte Quellenlage angesprochen: Im Geleitwort zum Historischen Stadtführer wird darauf hingewiesen, dass diese in Wanne-Eickel noch viel schlechter als in Herne war. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass Herne hier nach dem Krieg viel aktiver in der Aufarbeitung der NS-Zeit war. Wollte man in Wanne-Eickel nicht so genau wissen, welche Verbrechen hier begangen worden sind?
Das hängt auch an Personen. In Herne haben nach dem Krieg in der Stadtverwaltung Menschen wie Robert Brauner und Karl Wolmeyer gesessen, die aus dem sozialdemokratischen Widerstand gekommen sind. Sie haben frühzeitig dafür gesorgt, dass es in Herne ein öffentliches Gedenken an die Opfer gab. Im Gegensatz dazu hat es die eigenständige Stadt Wanne-Eickel Zeit ihres Bestehens ja nicht geschafft, in irgendeiner würdigen Form an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern. Viele Dokumente wurden aber auch, wie allerorts, gezielt vernichtet. Geoffrey Phillips, der 1938 Wanne-Eickel mit einem Kindertransport entflohen war, erzählte mir, wie er 1945 als britischer Soldat nach Wanne zurückkam. Das Büro der NSDAP sei vollkommen intakt gewesen und alle Unterlagen über die Nazis noch vorhanden. Aber schon damals hieß es: „Lasst die Leute in Ruhe!“ Wer dann später direkt dafür verantwortlich war, dass die Sachen entsorgt wurden, sei dahingestellt. Das ist aber auch eine Konsequenz, die ich mit der WAZ-Serie über Nazis aus Herne und Wanne-Eickel aufzeigen wollte: Alle Beispiele, die ich dort aufgeführt habe, münden größtenteils in einer irrwitzigen Entnazifizierung, die zu einer „Mitläuferfabrik“ verkam. Ein zweiter Aspekt: Dieses Argument, „Wir haben davon nichts gewusst“ – das stimmt doch bis zu den Deportationen in den Osten nicht. Das zeigt doch der Fall Saul Reicher: 1935 waren in der Hauptstraße über 200 Personen daran beteiligt, diesen Mann zu lynchen. Oder: In der Bahnhofstraße sind 30 Prozent der Geschäfte arisiert worden. Oder die brennenden Synagogen. Das war ein Fanal.
Die Reichspogromnacht jährt sich zum 75. Mal. Herne ist 2008 dazu übergegangen, das Programm zur Gedenkveranstaltung von Schülern vorbereiten zu lassen. Ist das der richtige Ansatz, mit diesem Gedenktag umzugehen?
Alle Ansätze führen irgendwann mal zu einem Automatismus. Und Automatismen sind schädlich für eine nachhaltige Erinnerungskultur. Irgendwann wird man darüber nachdenken müssen, wieder etwas zu verändern. Aber dieser Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Es gibt immer noch spannende Diskussionen, es gibt sehr engagierte Schüler, die sich mit dem Thema freiwillig auseinandersetzen. Bei der Frage der Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft stehen wir zum Beispiel noch ganz am Anfang.
Oberbürgermeister Horst Schiereck hat Ihnen den Auftrag erteilt, das Verschwinden von Sinti und Roma von der Cranger Kirmes zu erforschen. Wie weit sind Sie mit der Recherche?
Das Problem ist auch hier die Quellenlage. Sinti und Roma waren seit jeher eine marginalisierte Gruppe, und es gibt kaum eine Eigenüberlieferung. Trotzdem findet man Spuren und Hinweise, wenn man sucht. Es ist nur sehr aufwendig. Aber mit der Cranger Kirmes haben wir einen starken lokalen Bezugspunkt. Das Thema soll zum 27. Januar, dem Shoah-Gedenktag, präsentiert werden.
Woran arbeitet der Historiker Ralf Piorr sonst noch?
Ich habe ja eine Art Doppelleben: Auf der einen Seite arbeite ich für die Stadt daran, dem Heimatmuseum Unser Fritz ein neues Konzept und eine neue Ausrichtung zu geben. Auf der privat-publizistischen Ebene werde ich weiter zur NS-Zeit forschen.Mir schwebt aber noch ein ganz anderes Projekt vor: Herne und Wanne-Eickel in den 70er Jahren. Der Strukturwandel setzte damals ein, und manmerkte, dass es mit Kohle und Bergbau nicht mehr weitergeht. In der nach Achtundsechzig-Phase befindet sich auch das mental eher enge Bergarbeitermilieu im Aufbruch. Wir haben Migration und die Goldbach-Affäre, im Fußball zwei Zweitligisten und Jürgen Marcus in der Hitparade. Wir haben die Auswirkungen einer seelenlosen Stadtsanierung und architektonische Verbrechenwie das KUZ. Dazu kommt die umstrittene Städteehe. Es ist also alles da, was gute Geschichten ausmacht.