Herne. . Die Katastrophe vor Lampedusa und der Tod von Hunderten von Flüchtligen sei eine logische Folge der Politik in Europa, sagt Flüchtlingsreferent Karl-Heinz Hoffmann im Interview. Auch zum Zuzug von Roma, Vorurteilen und der Situation in Herne nimmt er Stellung.

„Mal wieder!“ Das war der erste Gedanken von Karl-Heinz Hoffmann, Flüchtlingsreferent des Eine-Welt-Zentrums des Ev. Kirchenkreises, nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa. Was dort passiere, sei „eine logische Folge der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und Deutschlands“, so der 54-Jährige im WAZ-Interview.

Er habe wenig Hoffnung, dass sich in naher Zukunft etwas ändern wird: „Der Staat scheint seine Aufgabe weiter darin zu sehen, die Bevölkerung vor Flüchtlingen zu schützen.“ Das könne aber nicht durchgehalten werden. „Die Mauern noch höher zu bauen – das wird nicht funktionieren“.

Karl-Heinz Hoffmann ist Flüchtlingsreferent des Eine-Welt-Zentrums in Herne.
Karl-Heinz Hoffmann ist Flüchtlingsreferent des Eine-Welt-Zentrums in Herne. © Winfried Labus / FotoPool

Roma aus Osteuropa spielten auch in seiner Beratungstätigkeit eine große Rolle. Der Zuzug von EU-Bürgern aus Rumänien und Bulgaren sei aber, anders als in Duisburg oder Dortmund, zurzeit nur ein marginales Thema. Die meisten Roma reisten per Visum aus Serbien und Mazedonien ein.

Auch in Herne bestünden starke Vorbehalte und Vorurteile gegen diese Volksgruppe. Es gebe aber nicht „die“ Roma, betont Hoffmann. Man dürfe aber auch nicht naiv sein und die Augen vor Problemen verschließen.

Die aktuelle Situation bei der Betreuung und Unterbringung von Flüchtlingen in Herne bezeichnet Karl-Heinz Hoffmann als „recht entspannt“.

Das Interview im Wortlaut:

Schutz vor Flüchtlingen 

Was haben Sie gedacht, als sich die Katastrophe vor Lampedusa ereignet hat und Hunderte von Flüchtlingen ertrunken sind?

Karl-Heinz Hoffmann: Es ist ja nicht das erste Mal, das passiert seit Jahren dort. Es ist aber das erste Mal, dass es von den Medien in dieser Weise aufgegriffen worden ist. Wahrscheinlich deshalb, weil diesmal so viele Menschen zu Tode gekommen sind. Was ich gedacht habe, mögen Außenstehende für kaltschnäuzig halten, aber die erste Reaktion war nicht Fassungslosigkeit oder Entsetzen, sondern der Gedanke: mal wieder! Es ist gut, dass es diesmal ein größeres Echo gefunden hat. Ich hoffe, dass es insbesondere in der Politik auch ein Thema bleibt und es nicht wieder nur einmalig einen Aufschrei gibt und dann wieder verebbt.

Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für solche Katastrophen?

Was dort passiert ist, ist eine logische Folge der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und Deutschlands. Wir hatten zwei deutsche Staaten, dann gab es die Wiedervereinigung. Die Mauern in Mitteleuropa sind gefallen, dafür haben wir Mauern um Europa gebaut. Wir haben Mauern in Nordafrika, in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Dort gibt es Zäune aus Nato-Draht, sechs Meter hoch und drei hintereinander, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, auf europäisches Gebiet zu gelangen. Sie versuchen es trotzdem, und so bleiben dort schon einmal Flüchtlinge hängen. Der Rest ertrinkt dann im Mittelmeer. Einige schaffen es, irgendwie in die Nähe von Europa zu kommen. Nach dem Seerecht sind eigentlich alle Menschen mit Boot verpflichtet, sie aus Seenot zu retten. Das passiert aber nicht. In Italien sind Fischer verurteilt worden, die Schiffbrüchige gerettet haben. Man hat diejenigen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens andere gerettet haben, wegen Beihilfe zum Schleppertum oder zur illegalen Einreise verurteilt und eingesperrt. Die italienische Regierung schickt jetzt dreimal so viele Flugzeuge und Boote raus – aber nicht um die Menschen zu retten, sondern um dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst ankommen. Gängige Praxis ist zum Beispiel in Italien und Griechenland: Wenn sich dort Flüchtlingsboote der Küste nähern, nimmt man sie an den Schlepphaken und bringt sie möglichst dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Griechenland schleppt auch gerne an die türkische Küste. Dort gibt es kleine Felseninseln, wo der Motor beschädigt und den Leuten das Handy abgenommen wird. Dann setzt man sie auf den Inseln ab. Und dann können sie zusehen, was sie machen.

Staat rüstet auf 

Gibt es in Deutschland in der politischen Debatte Anhaltspunkte dafür, dass sich in der Flüchtlingspolitik etwas ändern könnte?

Zunächst mal nicht. Unser Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sagt ja, es gebe zunächst keinen Grund, etwas zu verändern. Das System wird bestehen bleiben. Was sich ändern wird: Es wird zunächst mal weiter aufgerüstet gegen Flüchtlinge. Es ist nicht so, dass Flüchtlinge geschützt werden. Der Staat schein seine Aufgabe weiter darin zu sehen, die Bevölkerung vor Flüchtlingen zu schützen. Schutzsuchende werden hier, so wirkt es, als Bedrohung aufgebaut. Es wird ja geradezu mit Feindbildern gearbeitet. Das ist aber nicht durchhaltbar. Wenn man sich die europäische Geschichte anschaut, dann weiß man, wie so etwas enden wird: Es geht nicht gut, die Menschen werden kommen. Ich will hier kein Szenario an die Wand malen. Ich glaube nicht, dass es irgendwelche spontanen Völkerwanderungen geben wird, aber es ist doch völlig klar: Wenn die Menschen dort, wo sie sind, nicht leben können, werden sie zu uns kommen. Die Mauern noch höher zu bauen, das wird nicht funktionieren.

Der Bundesinnenminister verweist häufig darauf, dass Deutschland gemessen an der Bevölkerungszahl mehr Flüchtlinge aufnimmt als andere Staaten wie zum Beispiel Italien.

Das ist so nicht richtig. Weltweit sind ungefähr 50 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge. Der Großteil der anderen Flüchtlinge geht in benachbarte Länder, die ebenso arm sind. Wir haben zum Beispiel Iran, Eritrea, Pakistan – dort gibt es Millionen von Flüchtlingen aus den Nachbarländern. In die westliche Welt gelangen vielleicht zehn Prozent, davon dann zehn Prozent nach Deutschland. Das heißt: Maximal ein Prozent der Flüchtlinge sind hier, werden kommen oder sind irgendwann mal hier gewesen. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann stimmt es, dass die italienische Regierung etwas viel Geschrei macht. Dort wird immer behauptet: Wir müssen alles auffangen, alle kommen zu uns. Dazu muss man sagen, dass Italien sich im Grunde als Transitland betätigt. Dort werden Visa verteilt, die gar nicht verteilt werden dürfen. Es gibt für Flüchtlinge ein Schengen-Visum. Das heißt: ein Visum, mit dem man sich drei Monate in Europa bewegen darf. Dazu gibt’s ein paar Hundert Euro, damit sich die Menschen ernähren und weiterziehen können. Die Flüchtlinge wollen in der Regel ja gar nicht in Italien, Spanien oder Griechenland bleiben, weil dort die Möglichkeiten noch ein Stück weit schlechter sind als bei uns. Und so zieht es sie eben in den Norden – nach Deutschland, Frankreich, England, in die Niederlande und auch in die skandinavischen Länder. In Deutschland werden es dieses Jahr vielleicht 80 000 Asylbewerber sein. Im Grunde ist das Asylverfahren jedoch völlig falsch, darin haben die meisten Menschen gar nichts zu suchen. Es gibt aber nun mal keine andere Möglichkeit für sie, nach Deutschland zu kommen. Diese 80 000 Asylbewerber in Deutschland mögen europaweit die größte Gruppe sein. Man muss aber auch sehen, dass wir 80 Millionen Einwohner haben. Wenn man das in Relation setzt, dann werden zum Beispiel in Dänemark, Luxemburg oder auch in Malta wesentlich mehr Flüchtlinge als in Deutschland aufgenommen.

Es gibt zurzeit im Bund Gespräche und Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierungskoalition. Verbinden Sie mit irgendeiner denkbaren Konstellation die Hoffnung, dass sich in der Flüchtlingspolitik ändern wird?

Davon gehe ich nicht aus. Selbst bei einer Koalition zwischen CDU/CSU und den Grünen hätte die Union am Ende die Oberhand. Die Flüchtlingspolitik ist ein zentrales Thema, mit dem die Parteien Propaganda machen, gerade im Wahlkampf.

Reaktionen in der Bevölkerung 

Wie macht sich die öffentliche Diskussion in Herne bemerkbar? Kommen jetzt zum Beispiel Schulen auf Sie zu, die das Thema aufgreifen wollen?

Direkt vor Ihnen saß bei mir Pfarrer eines Berufskollegs. Wir werden im Dezember ein viertägiges Unterrichtsprojekt zum Thema Flüchtlinge begleiten. Das soll die Vorbereitung sein für eine Aktion, die wir in der zweiten Dezemberhälfte durchführen werden. In Herne gab es ja mal einen Abschiebeknast, in dem sich vor rund 20 Jahren ein junger Flüchtling aus dem Sudan erhängt hatte. Er wurde anschließend auf dem Wiescherfriedhof bestattet. Wir haben dort alljährlich eine kleine Gedenkveranstaltung durchgeführt. Wir wollen dies künfigt wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken: Zum einen den Menschen, der sich bei uns Rettung erhofft und den Tod gefunden hat, zum anderen aber auch die Gesamtproblematik. Das hatten wir sowieso vor. Ob es ohne Lampedusa diese Resonanz in der Schule gehabt hätte, das weiß ich nicht.

Haben Sie Hoffnung, dass die Flüchtlingsproblematik nun grundsätzlich wieder stärker ins Bewusstsein der Bürger rückt?

Das lässt sich schwer vorhersagen. Es ist ja kein Selbstzweck, dass ein Thema in der Öffentlichkeit ist. Es muss ja auch die Bereitschaft geweckt werden, etwas zu ändern. Mittelfristig wird sich das ändern müssen, weil die Krisenherde zunehmen und mehr Menschen kommen werden. Ich denke hier an ökologische Katastrophen, Klimaerwärmung, Kriege und vor allem unser Wirtschaftssystem, das absurde Folgen hat: Hochsubventionierte in Deutschland produzierte Lebensmittel werden in Westafrika auf dem Markt billiger verkauft als die einheimischen Lebensmittel. Im Moment ist das Interesse von Medien oder auch von Schulen sehr groß. Ich glaube schon, dass dahinter das Bemühen steht, das Problem nicht so schnell in Vergessenheit geraten zu lassen.

Vorbehalte gegen Roma 

In der öffentlichen Diskussion rückt zunehmend das Thema „Armutsflüchtlinge“ in den Fokus, konkret: der Zuzug von Roma aus EU-Ländern wie Bulgarien und Rumänien. Spielt das eine Rolle in Ihrer Arbeit?

Das spielt eine relativ große Rolle, auch wenn diese Menschen in der Regel keine Asylanträge mehr stellen. Diese Anträge würden ohnehin als unbeachtlich zurückgewiesen werden: Sie sind ja jetzt EU-Bürger, und innerhalb der EU hat man per Gesetz definiert, dass politische Verfolgung nicht mehr stattfinden kann. Das kann man natürlich anzweifeln. Die Menschen kommen also nach Deutschland und dürfen sich hier aufhalten. Sie wohnen bei Verwandten, teilweise werden sie bei der Stadt vorstellig und werden dann untergebracht, zum Beispiel an der Buschkampstraße. Sie beziehen dann gekürzte Sozialleistungen, bekommen eine ärztliche Versorgung. Man versucht dann, die Menschen möglichst schnell in ihre Herkunftsländer, ich sage nicht Heimatländer, zurückzuschicken.

Handelt es sich in den meisten Fällen um Roma?

Was Menschen aus Bulgarien und Rumänien angeht: in den meisten Fällen ja. Aber wenn wir über Roma reden, kommen nach wie vor die meisten Menschen aus Mazedonien und Serbien. Das hängt damit zusammen, dass vor einigen Jahren die Visumpflicht abgeschafft worden ist und die Menschen jetzt ohne Visum hier einreisen. Das sind die Menschen, die häufiger in der Beratung auftauchen. Die andere Gruppe aus Rumänien oder Bulgarien ist in Herne nur marginal vertreten. Mit Duisburg und Dortmund ist das nicht zu vergleichen.

Gehen Sie davon aus, dass sich dies zum 1. Januar 2014 ändern wird, wenn EU-Bürger die volle Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt genießen?

Es ist möglich, dass sich das ändert – zumal es jetzt noch ein Urteil des Landessozialgerichts zum Bezug von Hartz IV gegeben hat. Aber das ist Kaffeesatzleserei. Menschen, die in ihrer Heimat ein Auskommen haben, wird das nicht anlocken. Und die anderen Menschen, die dort nicht leben konnten, sind ohnehin gekommen.

Spielt es nach Ihrer Einschätzung eine besondere Rolle, dass viele der EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien der Volksgruppe der Roma angehören?

Natürlich, es gibt immer noch starke Vorbehalte. Man muss aber auch beide Seiten sehen, man darf hier nicht naiv sein. Natürlich gibt es Menschen, die sich nicht unbedingt so verhalten, wie wir uns das vorstellen. Die gibt es in der alteingesessenen Bevölkerung aber auch. In manchen Bevölkerungsgruppen mag es diese Menschen häufiger geben als in anderen. Wir müssen aber auch sehen, dass die Menschen aus dem Volk der Roma, die zu uns kommen, nicht unbedingt die sind, die eine gute Ausbildung genossen haben in ihren Herkunftsland. Es kommen natürlich Menschen, die Probleme haben, dort zu leben. Deshalb kann man auch nicht von „den“ Roma sprechen. Es gibt auf der anderen Seite viele Vorurteile und die alte Sündenbock-Theorie. Das hat sich trotz der jahrelangen, jahrzehntelangen Arbeit nicht geändert. Nach dem Motto: „Nach Deutschland kann ja jeder kommen. Dann kriegen die Sozialhilfe, doppelt so viel wie ein Deutscher. Und nach drei Monaten haben die dann ‘nen Mercedes vor der Unterkunft stehen.“ Alles völliger Blödsinn, alles völlig ausgeschlossen. Ich kann den Leuten Daten und Fakten zur Verfügung stellen, auch die Zahlen der Bundesregierung. Dann bekomme ich zu hören: Das ist ja alles kommunistische Propaganda. Diesen Bodensatz von uneinsichtigen und beratungsresistenten Menschen, die immun sind gegen Argumente, gibt es immer. Sie merken schon, ich werde hier etwas unsachlich. Doch das ist etwas, was mich persönlich sehr ärgert. Man kann unterschiedlicher Meinung sein, aber man muss auch mal die Realität zur Kenntnis nehmen.

Entspannte Situation in Herne 

Wie stellt sich aktuell die Situation bei der Betreuung und Unterbringung von Menschen in Herne dar?

Zurzeit sieht es in Herne insgesamt recht entspannt aus. Es gibt mehrere von der Stadt finanzierte Stellen bei den Verbänden, die für die Betreuung von Flüchtlingen in Privatunterkünften zuständig sind. Die Kollegen machen Hausbesuche und Beratung. Es gibt von Seiten der Stadt auch eine Sozialarbeiterin am Zechenring, die sich dort sehr gut einbringt. Ich habe in der Beratung häufig Menschen aus den Gemeinschaftsunterkünften Zechenring, Dorstener Straße und Buschkampstraße. Es sind sehr viele Menschen in Privatwohnungen gezogen. Am Zechenring werden zurzeit wieder Versorgungsleitungen und Fundamente gesetzt, um neue Container aufstellen zu können. Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Es gibt genug leer stehenden Wohnungen in Herne, in die man Flüchtlinge ziehen lassen könnte, wenn sie eine gewisse Zeit in der Gemeinschaftsunterkunft gelebt haben. In Leverkusen hat man zum Beispiel vor vielen Jahre alle Wohnheime bis auf eins komplett abgeschafft. Flüchtlinge leben dort in Privatwohnungen. Es hat bis heute keine Beschwerde gegeben, niemand musste ins Wohnheim zurückziehen. Und die Stadt spart pro Jahr eine Million Euro.

Wie sieht es in Sachen Abschiebung aus?

Große Katastrophen erleben wir hier zurzeit nicht, es gibt keine Massenabschiebungen.