Herne. . Annemarie Baunack (35) ist an Multipler Sklerose erkrankt. Ihre Erfahrung: Behindertengerechte Wohnungen sind zu teuer oder nicht zu haben.
Seit zehn Jahren lebt Annemarie Baunack mit der Diagnose „Multiple Sklerose“. In dieser Zeit ging es mit ihrer Mobilität bergab. Kam die 35-jährige vor einigen Jahren noch gut mit dem Rollator zurecht, ist heute der Rollstuhl ihr Hauptfortbewegungsmittel. 2006 wandte sie sich an die WAZ, um auf ihre schwierige Suche nach einer behindertengerechten Wohnung aufmerksam zu machen. Kurz darauf zog sie in die Seniorenwohnanlage an der Funkenbergstraße. Jetzt sucht sie wieder. Ihre bittere Erfahrung: Geeignete Wohnungen sind nicht bezahlbar, bezahlbare nicht zu haben oder nicht geeignet.
Wer Annemarie Baunack durch ihre 45 qm große Wohnung folgt, erkennt: In der Küche sind Spüle, Oberschränke und Herd kaum erreichbar. Im Bad gibt es zwar einen Wannenlift, doch um auf den Sitz rutschen zu können, müsste der Rollstuhl vor der Badewanne quer stehen. Und auf den Balkon kann die Mieterin nicht rollen, weil eine Schwelle sie bremst.
Dass es Wohnungen gibt, die für ihre Bedürfnisse optimal wären, hat die Rollstuhlfahrerin an der Poststraße gesehen: „Die Haustür öffnete sich automatisch und in den Aufzug konnte ich an einer Seite rein- und an der anderen rausfahren.“ In der (privat vermieteten) Wohnung „gab es keinen Absatz, die Rollos ließen sich elektronisch bedienen und an die Steckdosen kam ich mit dem Rollstuhl heran.“ Bodengleiche Dusche, unterfahrbares Waschbecken und vieles mehr überzeugten sie restlos. Zusätzliche Sicherheit böte die Nähe zur Awo-Tagespflege im Haus.
Doch die Wohnung kostet inklusive Nebenkosten 730 Euro - erheblich mehr, als die Stadt Herne Menschen wie Annemarie Baunack, die erwerbsunfähig ist und auf „Grundsicherung“ angewiesen ,als Mietzuschuss erstattet. Zwar stehen ihr 65 qm zu, die dürfen jedoch nicht mehr als 380 Euro plus Heizkosten kosten, wie die Stadt in dem Ablehnungsschreiben mitteilte. Beigelegt war eine Liste mit Adressen von Wohnungsgesellschaften, die über behindertengerechte Wohnungen verfügen.
Verärgert und traurig
Annemarie Baunack hat sie alle kontaktiert. Die einen schickten Absagen, andere nahmen sie in eine Warteliste auf. Eine Wohnung,, die das Sozialamt ihr vorgeschlagen habe, sei zwar als behindertengerecht deklariert gewesen, haben aber 5-cm-Absätze vor Balkon und Abstellecke gehabt. Annemarie Baunack schwankt zwischen Ärger und Traurigkeit, „weil man so viel Steine in den Weg gelegt kriegt“ und sie sich mit all diesen Dingen herumschlagen muss. „Ich habe die Kraft nicht.“
Rollstuhlfahrerin Gabriele Hartmann bestätigt die Erfahrungen von Annemarie Baunack. Was „barrierefrei“ oder „behindertengerecht“ genannt werde, entspreche so gut wie nie den DIN-Normen, sagt die Gründerin der (aufgelösten) Fibag-Selbsthilfegruppe, die früher im Behindertenbeirat aktiv war. „Wenn Mittel für den sozialen Wohnungsbau bewilligt werden, müssen auch Kontrollen stattfinden“, fordert sie. Sie wünscht sich von der Stadt einen Überblick über den Bestand an normgerechten Wohnungen sowie eine Klärung des Bedarfs, den sie als hoch einschätzt. Dass sich Behinderte immer wieder bemühen müssten, sei „ein irrsinniger Aufwand“.
Die städtische Behindertenkoordinatorin Angelika Schildgen kennt den Bestand nicht, geht aber davon aus, dass es künftig weniger Engpässe gebe, weil größere Mietobjekte heute barrierefrei gebaut werden müssten. Sie bekomme nur „vereinzelte Anrufe“ und verweise dann an die Wohnungsgesellschaften. Etwas Geeignetes zu finden, sei für Rollstuhlfahrer problematisch, da die meisten als nicht Erwerbstätige wenig Geld hätten und altengerechte Wohnungen nur an Ältere vergeben würden.
Alfred Gläsker von der Wohnungsaufsicht im Sozialamt ist keine besondere Nachfrage nach behindertengerechten Wohnungen bekannt. Er sagt: „Ein-Personen-Wohnungen sind rar, ob für Behinderte oder Nichtbehinderte.“ Behinderten biete man auch Seniorenwohnungen an, wenn es dafür keine älteren Interessenten gebe. Bewerber könnten sich im Gesundheitsamt oder im Sozialamt melden. Wenn dort wie zur Zeit kein Bedarf erfasst sei, sei ein Bau weiterer behindertengerechter Wohnungen auch nicht geboten.