Als sie vor acht Monaten per Kaiserschnitt in einer Bochumer Spezialklinik auf die Welt kam, wog die kleine Hernerin Emmely-Maja Anitucai gerade 370 Gramm. Von allen Frühchen, die dort geboren wurden und überlebten, ist sie das leichteste.

Als Emmely-Maja geboren wird, wiegt sie so viel wie zwei Äpfel. 370 Gramm. Am 24. September holen die Ärzte im Bochumer St. Elisabeth-Krankenhaus sie per Kaiserschnitt, an einem Samstagmittag, nachdem Tanja Anitucai noch gehofft hatte, die Geburt ihres zweiten Kindes wenigstens ein paar Tage hinauszögern zu können. Sie ist in der 23. Schwangerschaftswoche. Erst Mitte Januar soll das Kind zur Welt kommen, aber es ist unterversorgt. Die auf Neugeborenenmedizinspezialisierten Ärzte schlagen eine vorgezogene Entbindung vor, binden aber die Eltern in die Entscheidung ein. „Wagen wir den Schritt, habe ich gesagt“, erzählt Tanja Anitucai, und ihr kommen die Tränen.

24-Stunden-Job

Emmi schläft noch nebenan, als ihre Mutter im Wohnzimmer der Anitucais in Börnig die Geschichte ihres achtmonatigen Lebens erzählt. Seit Februar ist das Frühchen zu Hause, ein transportabler Monitor überwacht noch bis zum ersten Geburtstag die Sauerstoffsättigung im Blut, den Herzschlag und die Atmung. „Jetzt ist doch alles in Ordnung, oder?“ wird Tanja Anitucai immer wieder gefragt. Nein, gut ist noch nichts, aber es geht voran.

Emmely hat gekräht. Marius Anitucai (31) holt sie ins Wohnzimmer: gestreifte Hose, kecke Irokesenfrisur - eine zarte, aber lebhafte Person, die jetzt 4830 Gramm auf die Waage bringt, 60 Zentimeter misst und sich von ihrem sichtlich verliebten Papa gerne bespaßen lässt. In den ersten Tagen war an Berührungen nicht zu denken. „Ihre Haut war wie Pergament, das mit Öl eingerieben wurde“, erinnert sich Tanja Anitucai. Doch durch Fotos im Internet vorbereitet, war sie „nicht geschockt“, als sie Emmely nach der Narkose das erste Mal sah. „Ich fand sie bildhübsch.“

Das Kind lag im Inkubator und seine Eltern kamen so oft sie konnten, intensiv unterstützt von Tanjas bester Freundin Sabrina Sieberich. „Wir durften Emmely nur leicht berühren, nicht streicheln.“ Im Oktober dürfen die Eltern das erste Mal „känguruen“: Mit unbekleidetem Oberkörper halten sie das noch intubierte Baby an sich geschmiegt, innige Stunden lang. „Die Station ist wie eine Familie“, sagt Tanja Anitucai über die „Neo“. Schwestern und Ärzte seien immer ansprechbar gewesen, mit anderen Eltern teilte man Freude und Angst.

Zwei Operationen hat Emmely hinter sich. Einmal kamen Herzspezialisten aus Bad Oeynhausen nach Bochum, das andere Mal wurden dort ihre Augen gelasert. Heute, nach acht Monaten, ist ihre Versorgung immer noch „ein 24-Stunden-Job“. Tanja Anitucai sagt das ohne Klage. Sie funktioniert. Ausgiebiges Füttern, Arztbesuche und Frühförderung einmal in der Woche, zweimal zur Krankengymnastik, dazwischen immer mal unvorhergesehene Infekte. Das Kind hat eine schwere Lungenerkrankung, von der man nicht weiß, ob sie verschwindet. Noch wiegt sie drei Kilo weniger als Gleichaltrige. „Aber der Kopf ist acht Monate alt“, ist Emmelys Mutter überzeugt. „Sie hört aufmerksam zu und wird zickig, wenn sie was nicht will.“ Ob doch eine geistige Behinderung da ist, wird getestet, wenn Emmely ein halbes Jahr alt ist.

Tanja Anitucai ist dankbar, dass die Medizin ihr das Kind am Leben erhalten hat, das erst gut die Hälfte seiner Reifungszeit im Mutterleib hinter sich hatte. Sie kennt die Argumente gegen eine Behandlung, die lebenslange Schwerstbehinderung in Kauf nimmt. „Ich finde, jeder Mensch hat eine Erstversorgung verdient“, ist ihre Überzeugung. „Jedes Kind entscheidet für sich, ob es überlebt.“ Sie und ihr Mann und vor allem Florin-Lucian (3) haben ihr Baby angenommen, wie es ist. Mit allen schönen Momenten und Rückschlägen. „Es ist ein Kraftakt, die ganze Zeit stark zu sein“, das streitet Tanja Anitucai nicht ab. Aber: „Manches beginnt groß, manches klein. Und manchmal ist das Kleinste das Größte.“ Dieser Spruch hängt im silbernen Rahmen über dem Wickeltisch.

Eine schwierige Entscheidung

Die Abteilung für Neonatologie (Neugeborenenmedizin) am St. Elisabeth-Krankenhaus in Bochum behandelt Frühgeborene ab einem Gewicht von etwa 400 Gramm. Pro Jahr werden 50 bis 60 Kinder mit einem Gewicht unter 1500 Gramm aufgenommen.

Emmely-Maja ist mit 370 Gramm das leichteste Kind, das dort geboren wurde und überlebt hat. Dr. Norbert Teig, der leitende Arzt der Station, bestätigt das. Und doch ist ihm nicht ganz wohl bei der Bekanntgabe solcher „Rekorde“. „Es ist schwierig, eine gute Entscheidung zu treffen, wenn ein Kind extrem unreif ist und an der Grenze zur Überlebensfähigkeit“, sagt der erfahrene Neonatologe.

Es gebe Empfehlungen, ein Neugeborenes ab der 24. Schwangerschaftswoche zu behandeln. Von der 22. bis 24. Woche werde dann ein Konsens mit den Eltern gesucht.

Auch er könne nicht absehen, wie sich das Neugeborene entwickele. Neben Erfolgsgeschichten kennt Teig genügend Fälle, in denen Kinder sterben – auch wenn sie mehr wogen. Deshalb mag er keine unrealistischen Erwartungen wecken. „Man weiß nicht, warum manche da relativ gut herauskommen und andere nicht.“

Die Bochumer Neonatologie – in Herne gibt es keine - gehört zu den großen Neugeborenen-Intensivabteilungen in Nordrhein-Westfalen. Sie erfüllt als „Level-1-Perinatalzentrum“ die Anforderungen an eine Versorgung der höchsten Stufe.