Und plötzlich ist Ernst Lingnau mittendrin. Die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst nach Rotenburg kommt im April 1938 nach Hause geflattert. „Das war Pflicht“, sagt der 94-Jährige heute. „Wer sich da gewehrt hat, den haben sie an die Wand gestellt.“
Er habe schon damals geahnt, dass das mal ein böses Ende nehmen wird. „Wir wurden im Arbeitsdienst schon an der Waffe ausgebildet.Da mussten wir die Schnauze halten. Wir haben aber unter uns gesagt: Es gibt Krieg.“
Der Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 markiert den Anfang des Zweiten Weltkriegs, der für viele Millionen Menschen den grausamen Tod bedeutete. Der Herner ist jetzt Funker bei der Luftwaffe. Er wird dem Sturzkampfbomber-Geschwader 3 zugeordnet.
Lingnaus erster Kriegseinsatz ist im Mai 1940 in Luxemburg. Die Wehrmacht überrennt das neutrale Land innerhalb weniger Tage. Die Deutschen besetzen Frankreich. 200 000 Soldaten und Zivilisten verlieren ihr Leben. Zum Glück habe er nie mit der Waffe in der Hand kämpfen müssen, sagt Lingnau. Als Funker ist er immer im Frontgeschehen eingebunden, meist aber in sicherer Entfernung. „Für das fliegende Personal war das natürlich härter.“ Manchmal bleibt abends ein Bett leer.
Der gläubige Katholik wird in Frankreich zum Besatzer – ein trügerisches Gefühl von Urlaub, ohne Bilder von Bombenopfern und Holocaust. „Uns ist es gut gegangen.“
Ernst Lingnau dokumentiert das Soldatenleben, die Boxkamera von Agfa immer dabei. Er drückt auf den Auslöser, als die Soldaten durch Paris schlendern, Flugzeuge beladen und Stubendienst schieben. Das ist erlaubt, sogar gewünscht von den Nazis. Nur vom Tod bitte keine Beweise.
Sommer 1941: Ernst stellt sich mit den Kameraden Karl-Heinz und Paul vor einem Schloss bei Arcachon zum Erinnerungsfoto auf. Die drei kommen aus Herne. Sie schicken das Bild an die Familie in der Heimat. Ernst hat die Kameraden seitdem nicht mehr gesehen. Das Foto, das vermutlich aus Pauls entsorgtem Nachlass stammt, findet ein WAZ-Leser 70 Jahre später in Sodingen auf dem Sperrmüll.