Herne. . Dr. Wolfgang Kessler hat die Martin-Opitz-Bibliothek mit aufgebaut und 22 Jahre geleitet. Zum Jahresende tritt der 64-Jährige in den Ruhestand.

Fragte jemand auf der Bahnhofstraße Passanten nach der Martin-Opitz-Bibliothek, sähe er vermutlich in viele ahnungslose Gesichter. Wolfgang Kessler weiß das und nimmt es gelassen. Der scheidende Leiter der Spezialbibliothek für Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa hat sein Haus 22 Jahre gut bestellt, und das ist in Fachkreisen bekannt.

Die Bibliothek ist mit ihrem von 80 000 auf 300 000 Bücher angewachsenen Bestand zu einer der ersten Adressen in Deutschland und darüber hinaus geworden, allenfalls in Teilsammlungen ist man andernorts besser bestückt. Trotz Konkurrenz durch das Internet hält die MOB konstant ihre 20 000 Ausleihen im Jahr.

Etwa die Hälfte der Nutzer hat eine persönliche Verbindung zum ehemaligen „deutschen Osten“. „In der Region gibt es viele Familienforscher“, sagt Wolfgang Kessler. Weil die Vorfahren als Arbeitsmigranten aus Polen kamen, oder die eigene Evakuierung oder Vertreibung aufgearbeitet werden wollen. Erinnerungen spürte auch jene Besucherin nach, die nur noch den Anfang eines Märchens wusste, das ihr die schlesische Großmutter erzählt hatte. Sogar ihr wurde geholfen.

Die andere Hälfte der Nutzer ist wissenschaftlich motiviert und sucht Literatur, die Universitätsbibliotheken nicht vorhalten. Ihnen kommt die „zweite technische Revolution“ entgegen, der nach der elektronischen Katalogisierung die Herner Bücherei überrollt hat: Alle Texte, die älter als 70 Jahre sind und damit nicht mehr urheberrechtlich geschützt, werden nach und nach digitalisiert und sind dann online einzusehen, laut Kessler geschätzte 50- bis 100 000 Titel in Herne.

Das technische Equipment ist angeschafft, doch mit acht Angestellten inklusive Direktor ist die Personaldecke dünn. Erst 1000 Bücher sind bisher eingescannt. Eine Vernetzung mit anderen wissenschaftlichen Bibliotheken kommt schon jetzt dem Nutzer entgegen: Im Verbund-Katalog findet er 800 000 Titel.

Am fehlenden Personal scheitert manches, das wird im Gespräch mit Wolfgang Kessler deutlich, auch wenn die Kürzungen im städtischen Kulturetat die zu 70% vom Bund finanzierte Stiftung noch nicht erreicht haben. Denn der Bücherbestand wächst, um bis zu 15 000 Bände im Jahr. „Ein Drittel kaufen wir an,“ erklärt Kessler, „ein Drittel bekommen wir durch Tausch mit anderen Bibliotheken und der Rest stammt aus Nachlässen und aufgelösten Instituten.“ So habe die MOB kürzlich noch zwei große Sammlungen zu Mittelpolen und Galizien geerbt. „Sehr häufig finden sich in den Nachlässen Bücher, die keiner hat“, sagt Kessler. Was nicht gebraucht wird, bekommen andere Bibliotheken.

Mindestens eine Veranstaltung im Monat stellt die Bibliothek auf die Beine, Lesungen, Vorträge und Ausstellungen. Mit 30 bis 50 Zuhörern kann immer gerechnet werden. Auch internationale Fachtagungen hat die MOB organisiert. Hätte er mehr Personal, würde Wolfgang Kessler auch gerne auf Anlässe wie den Tod von Christa Wolf reagieren: „Sie kommt aus Landsberg an der Warthe, und dazu haben wir fast alles.“ Wäre mehr Zeit, könnten auch die 30 000 Archivalien – Handschriften, Manuskripte, Briefe – gründlicher erfasst werden. „Arbeit für Jahrzehnte“, wie Kessler wohl weiß. So bleibt auch für seinen Stellvertreter Hans-Jakob Tebarth, der am Januar die Leitung übernimmt, eine Menge zu tun.