Herne. .
Vor 70 Jahren nahm sich der Arzt Dr. Gustav Wertheim in der Heinrichstraße das Leben. Die Verzweiflungstat wirft ein Licht auf Opfer, Täter und stille Helden.
Es war am Mittag des 18. November 1941. Dr. Gustav Wertheim, einst ein angesehener Arzt in Herne, steht auf der Straße vor seinem Haus in der Heinrichstraße 6 und zwei Männern in SA-Uniform beschimpfen ihn. An der Kleidung des 64-jährigen Mannes ist auf der linken Brustseite ein handtellergroßer, schwarz aufgezogener Sechsstern aus gelbem Stoff aufgenäht. Er trägt die Aufschrift „Jude“. Der Streit eskaliert, und die Männer in Uniform misshandeln Wertheim, der daraufhin in seine Wohnung flüchtet und sich mit Zyankali das Leben nimmt. In der Sterbeurkunde wird als Todeszeit 15.30 Uhr angegeben.
In den vorhandenen Akten ist überliefert, worum es bei dem Streit ging. Wertheim war aufgrund der Repressionen gezwungen, Teile seiner Wohnungseinrichtung zu verkaufen. Die Gebrüder Hartmann aus Castrop-Rauxel traten als Interessenten auf. Bei jenem fatalen zweiten Treffen erschienen sie in Parteiuniform, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, denn für sie war jüdisches Eigentum nur Beute, die es zu vereinnahmen galt. Selbstverständlich ohne sich an den Kaufpreis zu halten. Für Gustav Wertheim stand diese Ereignis am Ende einer Phalanx von Demütigungen: 1936 wurde er gezwungen, seine Praxis aufzugeben, 1938 wurde er verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht, ab 1940 folgten fast monatlich weitere Akte der Entrechtung. Im November 1941 kamen auch die ersten Gerüchte über die bevorstehende Deportation der Juden in den Osten auf. In dieser Situation der persönlichen Erniedrigung und Hoffnungslosigkeit beschloss der dekorierte Soldat des Ersten Weltkriegs, Hand an sich zu legen. Kein Leben schien ihm besser als dieses.
Dabei wirft der gezwungene Selbstmord Wertheims auch die Frage auf, wie Nachbarn und frühere Bekannte auf die Notlage der jüdischen Menschen reagierten. Gab es nur Täter und Zuschauer? Die Gleichgültigkeit, mit der die Entrechtung und Ausplünderung der jüdischen Nachbarn über Jahre hingenommen wurde, ist auch für Herne und Wanne-Eickel offensichtlich.
Die Polizisten des 20. Reviers Herne-Mitte kamen der Überwachung der jüdischen Bevölkerung akribisch nach, im Rathaus organisierte das Wohnungsamt die Zwangseinweisungen in gesonderte „Judenhäuser“, das Finanzamt verwertete jüdisches Eigentum zu Gunsten der Stadtkassen, eine Verweigerung in irgendeiner Form ist nicht überliefert. Umso mehr sind die Ausnahmen bemerkenswert.
Kurz nach dem Tod ihres Mannes wurde Martha Wertheim in das „Judenhaus“ Bahnhofstraße 59 eingewiesen. Als im Januar 1942 die erste Deportation aus Herne in den Osten einsetzte, war sie verschwunden. Unterschlupf bot ihr Dr. Wernher Wiemer, ein angesehener Arzt, der ebenfalls im Ersten Weltkrieg gedient hatte und eine Praxis auf der Heinrichstraße 21 betrieb. Die Familien Wiemer und Wertheim waren miteinander befreundet, und diese Bande hatten auch nach 1933 noch bestand. Wiemer versteckte Martha Wertheim im St. Elisabeth-Hospital in Bochum, wo er als Leiter der gynäkologischen Abteilung amtierte. „Eine Reihe von verfolgten jüdischen Frauen konnte im Elisabeth-Hospital Unterschlupf finden. Die Gestapo drohte zwar mehrfach, das Krankenhaus, das bespitzelt wurde, zu schließen, aber das konnte durch kluges Taktieren abgewendet werden“, so Prof. Herbert Neumann, der unlängst die Chronik des Hospitals verfasste.
Für Martha Wertheim war es jedoch nur ein Versteck auf Zeit. Vermutlich konnte sie den Druck, in der Illegalität zu leben, nicht mehr aushalten. Aktenkundig ist, dass sie am 27. April 1942 vom „Judenhaus“ in der Bahnhofstraße mit 30 weiteren Herner Juden nach Dortmund gebracht wurde. Von dort wurden am 30. April 1942 etwa 800 Juden aus dem Regierungsbezirk Arnsberg in die Region Zamosc nach Polen deportiert. Niemand aus dem Transport überlebte. Vermutlich wurde Martha Wertheim, wie die meisten der Deportierten, im Vernichtungslager Sobibor oder Bełzec ermordet.