Herne. .
Hüseyin Rall wurde als Kind von seinen Eltern aus der Türkei nach Deutschland geholt und ohne Deutschkenntnisse eingeschult. Heute ist er Chef im Evonik-Kohlekraftwerk Herne.
„Herzlich willkommen im Heizkraftwerk Herne“, sagt Hüseyin Rall zur Begrüßung. Rall ist Kraftwerksgruppenleiter Ruhr Ost im Evonik Steag Konzern, sein Haus versorgt jährlich 1,3 Millionen Haushalte. Und er hat eine ungewöhnliche Karriere hinter sich.
„Ich glaube an deutsche Tugenden wie Fleiß und Disziplin“, sagt Rall, als wir in seinem Büro Platz nehmen. Hier ist es hell, im Schrank an der rechten Wand stehen Bilder von seiner Frau und den Kindern. „Gradlinig war ich schon. Aber der Weg war steinig und beschwerlich. Das hat mich als Mensch geprägt.“
Ralls Eltern kamen 1963 aus der Türkei nach Deutschland, ins Ruhrgebiet. „Wir kommen aus einem Ort an der Schwarzmeerküste, Zonguldag, in dem es große Steinkohlevorkommen gibt“, erläutert Rall. Seine Eltern holten ihn zwei Jahre später im Alter von sieben Jahren aus der Heimat nach.
Angekommen in Mülheim an der Ruhr, wo sein Vater eine Anstellung bei den Mannesmann Röhrenwerken bekommen hatte, fand er sich in einer völlig neuen Welt wieder. In einer Einzimmer-Wohnung mit einem Klo im Treppenhaus, in einer Grundschule mit Mitschülern und Lehrern, die er nicht verstand. „Noten konnten nicht erteilt werden“, stand nach zwei Jahren beschleunigter Grundschule auf dem Abschlusszeugnis. „Aufgrund der wirtschaftlichen Situation sind wir vier Mal umgezogen, ich kam von einer Hauptschule in die andere.“
„Meine Mutter wollte immer, dass ich Arzt oder Ingenieur werde“, blickt Rall zurück. „Ich hatte von dem Beruf des Ingenieurs gehört, aber keine Ahnung, was das wirklich bedeutete. Trotzdem beschloss ich, diesen Weg einzuschlagen.“
Die Aufnahmeprüfung zum Maschinenschlosser-Gesellen bei KWU Siemens und Mannesmann gelang ihm trotz schlechter Noten. „Wir mussten einen Draht biegen und ich habe als Bester abgeschnitten.“ In der Lehrzeit, die er um ein halbes Jahr verkürzte, traf Rall Studenten, die ein Praktikum in der Lernwerkstatt machten und seinen Entschluss festigten, Maschinenbauingenieur zu werden. Er holte die mittlere Reife nach und machte auf dem zweiten Bildungsweg sein Abitur.
„Meine Mathe-Kenntnisse waren bis dahin noch katastrophal“, gesteht er. Doch mit dieser Schwäche wollte er sich nicht abfinden. Geholfen hat ihm eine der schönen und wichtigen Begegnungen auf dem Weg zum Akademiker: „Ich hatte Nachhilfe bei einer damals schon etwa 80-jährigen Ex-Lehrerin – eine nette, alte Dame, die sich um Migranten kümmerte, Vietnamesen, Türken“, erinnert sich Rall mit einem Lächeln.
Dass Rall später, während seines Studiums der Energie- und Verfahrenstechnik an der Gesamthochschule Essen, Übungen in Mathematik für Studenten betreute, sei hier nur am Rande erwähnt. Entscheidender ist das Zusammentreffen mit seiner Frau, einer Erzieherin. „Wir kennen uns fast 28 Jahre, sind seit 25 Jahren verheiratet. Sie leitet einen Kindergarten, hat viel mit unterschiedlichen Menschen zu tun – da gibt es viele Parallelen zwischen unseren Berufen“, sagt Rall. Nach mehreren Stationen im Ruhrgebiet leitete er Anfang des neuen Jahrtausends das Raffinerie-Kraftwerke in Leuna, in den neuen Bundesländern. „Die Menschen dort sind offen, direkt und sehr liebenswert. Ich habe viele Freunde dort“, erzählt Rall. „In Leuna habe ich ein Gefühl für die Geschichte der Menschen und ihre Vergangenheit entwickelt. Sie haben eine Menge durchgemacht, lebten in einem menschenverachtenden, totalitären Regime“.
Das schmälert nicht Ralls starke Gefühle für das Ruhrgebiet und den hiesigen Menschenschlag. „Hier bin ich aufgewachsen“, untermauert der 53-Jährige. Hier sind seine beiden Kinder auf die Welt gekommen – „das Wichtigste und Schönste in meinem Leben.“
Am Ende des Gesprächs sagt er noch, dass er lange zwischen zwei Welten gelebt habe – und wusste, er würde das nicht durchhalten. Sein Vater wählte den anderen Weg: Er lebt seit dem Tod der Mutter wieder in der Türkei.
„Wir fahren gerne dorthin, besuchen ihn und machen Urlaub“. Sein Zuhause ist und bleibt das Ruhrgebiet.