Herne. Das Schicksal hat Annemarie A. hart getroffen: Ihr Mann leidet an Altersdemenz, ihre einzige Tochter liegt seit Jahren im Wachkoma, beiden leben im Pflegeheim des ASB an der Siepenstraße. Eine tragische Geschichte - und doch hat die 75-jährige Frau gelernt, ihr Leben neu zu ordnen.
Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen. Und manchmal legt uns das Leben Steine in den Weg, die nur schwer beiseite zu räumen sind. Doch was Annemarie A.* in den letzten Jahren für Schicksalsschläge zu erleiden und zu schultern hatte, das würde die Kräfte vieler von uns maßlos übersteigen.
Sowohl ihr Ehemann als auch ihre einzige Tochter sind im Pflegezentrum des ASB an der Siepenstraße untergebracht, und es besteht für beide kaum Aussicht, je wieder gesund zu werden. „Ein solcher Fall ist uns noch nie begegnet”, sagt Einrichtungsleiter Tobias Ahrens. Doch wer denkt, Annemarie A. könne daran zerbrochen sein, der irrt: Eine aufgeräumte, ältere Dame sitzt uns beim Gespräch gegenüber. 75 Jahre alt ist sie, und an die kleinste Details ihres nervenaufreibenden Lebens kann sie sich haargenau erinnern.
Der Zeckenbiss
Dabei fing alles ganz idyllisch an: Schon in der Schule lernte sie ihren Mann Hans kennen, den sie 1957 heiratete und mit ihm in ein Haus an der Horsthauser Straße zog, das bis heute ihre Heimat ist. Zwei Jahre später wurde ihre Tochter Dagmar geboren. Ihr Mann, ein gelernter Schuhmacher, schuftete bei Opel am Band und begeisterte sich für Fußball und Kegeln, während Annemarie als Bürogehilfin arbeitete. Die Tochter plante eine Lehre als Friseurin.
Dann das: „Im Sommer 1975 wurde meine Tochter beim Ferienlager in Holland von einer Zecke gebissen”, erzählt sie. Es dauerte eine Weile bis erste Symptome auftraten, und erst Wochen später konnten sich die Ärzte ein Urteil über die Krankheit bilden, die damals noch nicht allzu genau erforscht war: Meningitis. „Sie lag sieben Wochen im Koma und war linksseitig gelähmt”, sagt Annemarie. Zwischenzeitlich ging es Dagmar zwar wieder etwas besser, doch ihre Lehre musste sie trotzdem abbrechen, obwohl sie bei der Zwischenprüfung gut abgeschnitten hatte. „Sie wurde mitten aus dem Leben gerissen”, sagt Annemarie. „Es war, als fiele sie in einen Dämmerschlaf.” Die erschütternde Diagnose: Wachkoma. Bis 1978 lag sie in einer Reha-Klinik in Köln, danach wurde Dagmar von ihrer Mutter zu Hause gepflegt. Fast 30 Jahre lang betreute sie ihre Tochter nur mithilfe eines Pflegedienstes, seit 1994 muss Dagmar künstlich ernährt werden.
Anzeichen einer Altersdemenz
„Irgendwann merkte ich, dass ich kolossal abbaute”, meint Annemarie. Die dauernde Pflege ihrer Tochter hatte ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Ein wenig erleichtert war sie, als Dagmar im Jahr 2005 im Pflegezentrum unterkam. Und dann das . . .
„Dass mit meinem Mann etwas nicht stimmte, habe ich zunächst kaum gemerkt.” Doch ab 2007 ließen sich die Anzeichen einer schleichenden Altersdemenz bei Hans, der in diesem Jahr 79 wird, nicht mehr verbergen: „Er wurde immer vergesslicher, völlig lustlos und redete manchmal wirres Zeug.” Ob Sommer oder Winter war? Hans konnte es nicht mehr unterscheiden, lief im Sommer mit dicker Winterjacke in der Stadt spazieren und trug dazu Pantoffeln. „Wenn ich ihn darauf hingewiesen habe, dann fauchte er mich an. So etwas kannte ich gar nicht von ihm.”
Geistige Umnachtung
Die größte Schrecksekunde ereilte Annemarie im vergangenen Jahr, als Hans nach einem Spaziergang nicht mehr nach Hause fand. „Er wurde spät abends von der Polizei in Bochum aufgelesen”, erzählt sie. „Wie es ihn da überhaupt hin verschlagen hatte, habe ich bis heute nicht verstanden.”
Nachdem Hans eine Weile im Krankenhaus verbrachte, aus dem er in geistiger Umnachtung dreimal weglief, ist er seit Juni 2009 ebenfalls beim ASB untergebracht: nur einen Steinwurf von seiner Tochter entfernt, die er bisweilen besucht. Beide leben in geschmackvoll eingerichteten Einzelzimmern, darauf hat Annemarie Wert gelegt.
Spuren hinterlassen
Und wie geht es ihr? Die Jahre haben bei Annemarie ihre Spuren hinterlassen. „Ich habe viel geweint.” Doch heute geht es ihr besser, sagt sie. „Ich schlafe auch wieder gut.” Wichtig für sie war, dass sie innerhalb ihres Hauses in eine kleinere Wohnung umgezogen ist, um den vielen dunklen Erinnerungen etwas aus dem Weg zu gehen. „Es gibt Momente, in denen ich mich einsam fühle, aber ich habe einen großen Bekanntenkreis”, sagt sie. „Ich gehe zum Kegeln, und es tut gut, über all das mal sprechen zu können.” Und klar: Täglich geht Annemarie zum ASB und besucht dort ihre Familie. Eine starke Frau.
*Name der Redaktion bekannt