Herne. Rund 2400 Contergan-Geschädigte leben noch in Deutschland. Medizinisch versorgt werden sie in zehn Kompetenzzentren - das Herner ist einmalig.

Diese Begegnung fand vor 42 Jahren statt - und sie prägt Markus Bruckhaus-Walter bis heute: Der Herner Allgemeinmediziner nahm damals an einer Pfadfinder-Veranstaltung in Dortmund teil. Dabei gab es eine Übung, bei der sich zwei Personen zusammenfinden. Eine von ihnen hat verbundene Augen, um von der anderen Person an zwei Fingern geführt zu werden. Als Bruckhaus-Walter nach der Hand seines Partners tastete, stellte er fest, dass damit etwas nicht stimmte. Es fehlten Finger. Und so machte er Bekanntschaft mit Claus Hanke, einem Contergan-Geschädigten.

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Daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute andauert und mitverantwortlich dafür war, dass die Praxis „Herner Hausärzte“ am Mittwoch offiziell als Kompetenzzentrum der Deutschen Conterganstiftung eingeweiht worden ist. Das Besondere: Alle anderen neuen Zentren sind entweder Kliniken oder Rehaeinrichtungen, die „Herner Hausärzte“ sind die einzige hausärztliche Einrichtung.

Praxis zeichnet sich durch hundertprozentige Barrierefreiheit aus

Was zeichnet dieses Kompetenzzentrum aus? Zunächst einmal eine hundertprozentige Barrierefreiheit: Betroffene kommen vom Parkplatz ohne jegliche Stufe oder gar Kante in die Praxis, Türrahmen und Räume sind so ausgelegt, dass Rollstühle problemlos manövrieren können. Zusätzlich sind die Armaturen im Bad extra lang, damit sie mit verkürzten Armen bedient werden können. Außerdem bietet die Praxis eine Videosprechstunde, denn zahlreiche Betroffene seien nicht unbedingt in der Lage, ohne Weiteres nach Herne zu kommen.

Laura Morzuch, Auszubildende Medizinische Fachangestellte, misst bei Claus Hanke den Blutdruck an den Beinen.
Laura Morzuch, Auszubildende Medizinische Fachangestellte, misst bei Claus Hanke den Blutdruck an den Beinen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Doch die eigentliche Bedeutung kann am besten Hanke selbst erläutern - er betreut für die Praxis die IT und hat dort inzwischen den Spitznamen Conti-Claus. Er habe lange Jahre große gesundheitliche Probleme gehabt, unter anderen mit Rückenschmerzen. Bis er Markus Bruckhaus-Walter kennengelernt habe, habe er eine ganze Ärzte-Odyssee hinter sich gebracht. Und nicht nur er alleine, viele andere Betroffene seien ratlos gewesen und hätten nicht gewusst, an wen sie sich wenden sollen. Im Soester Contergan-Stammtisch sei immer wieder die Frage ein Thema, wer einen Arzt kennt, der helfen kann.

Blutdruck wird bei Contergan-Geschädigten am Bein gemessen

Deshalb seien die Herner Hausärzte so wertvoll. Denn dort wisse man eben, wie man den Blutdruck misst, wenn der Patient fehlgebildete, viel zu kurze Arme habe: Gemessen wird an den Beinen. Das gleiche Problem bestehe bei der Blutabnahme. Die Lösung: Der Nadeleinstich erfolgt zum Beispiel an der Leiste. Bei seinen Rückenproblemen habe ihm die Physiopraxis Holtkamp geholfen, die im selben Haus wie die Arztpraxis ist und seit Jahrzehnten mit Bruckhaus-Walter kooperiert. Gerd Holtkamp wisse, wie er Blockaden bei Hanke lösen kann. Auch das erfordert Spezialwissen, denn bei Contergan-Betroffenen liegen die Organe teilweise anders. Im Grunde, so Hanke, seien die Herner Hausärzte schon längst ein Kompetenzzentrum, nun eben mit Anerkennung und Förderung der Contergan-Stiftung.

„Wir freuen wir uns über die Einrichtung der „Herner Hausärzte“ im Herzen des Ruhrgebiets. Wir hoffen sehr, dass die wirklich ausgezeichnete Einrichtung von vielen Betroffenen genutzt wird, damit ihre Leiden zumindest gelindert werden. Darüber hinaus bauen die Kompetenzzentren, die miteinander vernetzt arbeiten, ein Wissen auf, dass auch von Hausärzten bundesweit für Menschen mit Conterganschädigung genutzt werden kann“, so der Vorsitzende der Conterganstiftung, Dieter Hackler.

Trotz der gelösten Stimmung bei der kleinen Feierstunde offenbart Hanke im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion auch ein Stück Bitternis: „Man hätte diese Hilfe früher gebrauchen können, aber es hat keinen interessiert. Mir geht es besser als vielen anderen, aber viele Betroffene sind jetzt in einem Alter, in dem sie aufgegeben haben.“

Vielleicht schöpfen sie nun neuen Mut mit dem Wissen, dass es in Herne eine Hausarztpraxis gibt, deren ausdrückliches Ziel es ist, Contergan-Betroffene zu betreuen. Die lange Freundschaft mit Claus Hanke sei die Ursache dafür, dass die Praxis jetzt als Kompetenzzentrum anerkannt sei, so Bruckhaus-Walter. „Ich danke Claus dafür, dass ich seine Lebenserfahrung teilen darf.“

>>> Der Contergan-Skandal

Der Hintergrund: In Deutschland leben zurzeit noch etwa 2400 Contergan-Betroffene. Hinter dem Begriff Contergan verbirgt sich einer der größten Arzneimittelskandale Deutschlands. Das Pharmaunternehmen Grünenthal verkaufte das rezeptfreie Schlaf- und Beruhigungsmittel ab 1956 mit dem Versprechen, dass es durch einen neuen Wirkstoff völlig ungefährlich ist. Es wurde zu einem Verkaufsschlager, auch Schwangere nahmen es ein.

Doch schon 1959 gab es erste Hinweise auf schwere Nebenwirkungen, die sich in der Folgezeit häuften. Weltweit wurden etwa 10.000 Kinder mit verkümmerten Gliedmaßen geboren, 1961 nahm Grünenthal Contergan wieder vom Markt.

Die Contergan-Stiftung hat in einem Interessenbekundungsverfahren zehn Kompetenzzentren ausgewählt, um eine bessere medizinische Versorgung der Betroffenen zu ermöglichen. Die zehn Zentren werden mit insgesamt 3,5 Millionen Euro gefördert.