Herne. Seit Jahren fördert Tuncay Nazik mit der Islamischen Gemeinde Herne-Röhlinghausen den Dialog der Religionen. Was er zum Krieg in Nahost sagt.

Pro-Palästina-Demonstrationen, Pro-Israel-Demonstration, Bombendrohungen: Seit dem Anschlag der Terrororganisation Hamas auf Israel hat sich eine aufgeheizte Stimmung ausgebreitet. Auch in Deutschland. Die Stimmung, der Krieg - sie machen Tuncay Nazik traurig. Der Vorsitzende der Islamischen Gemeinde Röhlinghausen hat in den vergangenen Jahren unermüdlich den Dialog der Religionen vorangetrieben und wähnte sich auf einem guten Weg. „Doch die jüngsten Ereignisse in Nahost werfen uns um mindestens zehn Jahre zurück.“

Als er vom Anschlag der Hamas gehört habe, habe er sofort seine jüdischen Freundinnen und Freunde kontaktiert und ihnen sein Mitleid ausgedrückt und Beistand angeboten, sagt er im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Eine Haltung, die Außenstehenden auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint in diesen Tagen, doch sie spiegelt Naziks Arbeit in den vergangenen Jahren.

Tuncay Nazik: „Im Zentrum stehen Menschlichkeit, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz.“
Tuncay Nazik: „Im Zentrum stehen Menschlichkeit, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz.“ © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Dazu muss man wissen, dass die Islamische Gemeinde Röhlinghausen zu den wenigen in Deutschland gehört, die völlig unabhängig von Verbänden sind. „Wir wollen unsere Entscheidungen selber treffen und nicht eine höhere Stelle um Erlaubnis bitten“, erläutert Nazik diese Entscheidung. 1976 gegründet, habe sich die Gemeinde seit etwa 20 Jahren zum Ziel gesetzt, den Islam in einer zeitgenössischen Weise zu vermitteln.

„Der Dialog mit anderen Religionen ist meine persönliche Überzeugung. Oberste Priorität hat der Mensch.“ Das Zusammenleben und die Menschlichkeit leite er aus dem Islam ab. Deshalb habe er jüdische, christliche oder atheistische Freundinnen und Freunde. Die Botschaft des Islam laute, dass es bei der Religion keinen Zwang geben soll. Das sei ein fester Bestandteil des islamischen Verständnisses von Religion. „Und das versuche ich zu leben.“ Deshalb besucht die Gemeinde seit Jahren regelmäßig Synagogen, katholische und evangelische Kirchen - also lange vor dem öffentlichkeitswirksam inszenierten Treffen von jüdischen und muslimischen Vertretern in einer Bochumer Moschee am vergangenen Wochenende.

Viele Parallelen zwischen Islam und Judentum

Gerade nach einem Synagogenbesuch oder Workshop würden sich viele Muslime dem Judentum näher fühlen. Denn das Judentum und der Islam hätten sehr viele Parallelen, viele Grundwerte fänden sich in beiden Religionen. Der Islam gehe davon aus, dass das Judentum und Christentum die Vorfahren des Islam gewesen seien. Ein Glaubensgrundsatz besage: Wenn jemand Jesus hasse, könne er kein Muslim sein. Außerdem gebe es viele Rituale im Judentum, die es auch im Islam gebe. Die Besuche in Synagogen brächten so ganz andere Sichtweisen auf das Judentum.

Im Mai dieses Jahres besuchte die Islamische Gemeinde Röhlinghausen die NS-Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Im Mai dieses Jahres besuchte die Islamische Gemeinde Röhlinghausen die NS-Gedenkstätte Bergen-Belsen. © Nazik

Darüber hinaus ist Nazik mit Gemeindemitgliedern zur NS-Gedenkstätte Bergen-Belsen gefahren. Dies habe gerade bei Migranten einen Aha-Effekt ausgelöst, denn so hätten sie kennengelernt, was die Nationalsozialisten den Juden angetan hätten und könnten verstehen, warum Deutschland im Nahost-Konflikt so agiert und das Existenzrecht Israels in den Mittelpunkt seines Handelns stellt. Schon wenige Tag nach dem Hamas-Anschlag hat der Gemeinde-Vorsitzende einen Workshop für Jugendliche veranstaltet, um die Hintergründe und die lange Geschichte des Nahost-Konflikts zu erklären, denn gerade jungen Menschen dürften sie unbekannt sein.

„Wer Anhänger der Hamas ist, kann nicht mein Freund sein“

Tuncay Nazik steht auf dem folgenden Standpunkt: „Man muss Israels Politik kritisieren dürfen, ohne, dass einem Antisemitismus vorgeworfen wird. Deswegen finde ich es auch falsch, dass Pro-Palästina-Demonstrationen pauschal verboten und kriminalisiert werden.“

In Deutschland lebten etwa 200.000 Palästinenserinnen und Palästinenser. Viele hätten Familienmitglieder in Gaza. Für diese Menschen müsse ein Raum geschaffen werden, in dem sie ihre Gefühle ausdrücken können. Aber einen Raum für antisemitische oder antimuslimische Äußerungen dürfe es nicht geben. Das erreiche man aber nicht dadurch, dass pro-palästinensische-Demos verboten und Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht gestellt werden.

„Meine Bedingung ist immer die Menschlichkeit“

Nazik: „Meine Antwort: Ich bin nie bedingungslos solidarisch mit irgendeiner Seite. Meine Bedingung ist immer die Menschlichkeit. Es gibt verschiedene Positionen und Handlungen, die ich bei der aktuellen israelischen Regierung für falsch halte und verurteile. Dazu gehören für mich beispielsweise die Siedlungspolitik, die Besatzung und die totale Abriegelung des Gazastreifens. Aber das rechtfertigt nicht, was die Hamas, eine Terrororganisation, seit dem 7. Oktober tut und dass noch hier bei uns von manchen extremistische Gruppierungen gefeiert wird.“

Die Anschläge seien bestialisch gewesen, vergleichbar mit dem IS. Da gebe es nichts zu relativieren, wer Anhänger der Hamas sei, könne nicht sein Freund sein, so Nazik. Viele Muslime habe das Vorgehen der Hamas geschockt.

Friedensgebet an der Kreuzkirche in Herne-Mitte. Dort habe er einen Ort der Trauer gefunden, so Tuncay Nazik.
Friedensgebet an der Kreuzkirche in Herne-Mitte. Dort habe er einen Ort der Trauer gefunden, so Tuncay Nazik. © FUNKE Foto Services | Jonas Richter

Tuncay Nazik erzählt, dass er in den vergangenen Tagen Kritik von mehreren Seiten habe einstecken müssen. Einerseits, weil er die Hamas verurteilt habe, von anderer Seite, weil seine Verurteilung der Anschläge nicht deutlicher ausgefallen sei. Er ist sich bewusst, dass man es in so einer Situation nie richtig machen könne. Er selbst hat einen klaren Kompass: Im Zentrum seines Handelns stünden Menschlichkeit, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz. Deshalb verurteilt er antisemitischen und antimuslimischen Rassismus.

Nazik würde sich wünschen, dass es einen viel intensiveren Dialog der Religionen gibt. Fühlt er sich da nicht wir der einsame Rufer in der Wüste? „Ich hoffe nicht. Unser Bundespräsident hat vor wenigen Tagen gesagt, dass der Schutz der jüdischen Kultur eine Bürgerpflicht sei. Ich erweitere diese Forderung: Dialog und Toleranz fördern, ist eine Bürgerpflicht.“

Nazik will den Weg des Dialogs weitergehen

Das fange schon im Kindergarten und in den Grundschule an. „Ich kann vielleicht zwei Kirchen und eine Synagoge erreichen, aber wenn es schon in der Kita und Grundschule Angebote gäbe, gäbe es etwas Flächendeckendes.“ Nazik machen die aktuellen Ereignisse in Israel und im Gazastreifen traurig. „Ich hoffe, dass die jüdische und muslimische Gemeinschaft diese Herausforderung stemmen kann. Doch wenn man diese Entmenschlichung sieht, wird es schwierig, wieder eine Vertrauensbasis aufzubauen.“ Doch er ist fest entschlossen, den Weg des Dialogs weiterzugehen.