Herne. Vor wenigen Tagen sind die letzten Corona-Schutzmaßnahmen ausgelaufen. Die WAZ hat mit dem Herner Infektiologen Prof. Santiago Ewig gesprochen.
Vor wenigen Tagen sind die letzten Corona-Schutzmaßnahmen ausgelaufen. Die letzten noch verbliebenen Maßnahmen sind weggefallen – wie das Tragen einer FFP2-Maske beim Besuch eines Krankenhauses oder Pflegeheimes. Die Herner WAZ-Redaktion hat im Laufe der Pandemie mehrfach mit dem Infektiologen Prof. Santiago Ewig über die Situation und die Maßnahmen gesprochen. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann erläutert er, warum er das Ende der Maßnahmen für richtig hält und warum sich die Menschen wieder richtig die Hand geben sollten.
Herr Professor Ewig, am vergangenen Montag wies das Dashboard des Robert-Koch-Instituts eine bundesweite Inzidenz von 9,8 aus, in Herne lag sie demnach bei 8,9. Wie aussagekräftig sind diese Werte noch?
Gar nicht. Da nicht systematisch getestet wurde, gibt es keine verlässliche Bezugszahl für die Anzahl der positiven Tests.
Wie hoch liegt Ihrer Ansicht nach die Dunkelziffer?
Das wissen wir nicht. Das müssen wir aber auch in dieser Form nicht wissen. Was wir wissen müssen, ist, ob ein Patient mit Symptomen SARS-CoV2-infiziert ist oder nicht. Natürlich ist es sinnvoll, ausgewählte repräsentative Populationen regelmäßig zu untersuchen, um die Übertragungsdynamik differenziert zu beobachten. Das System der Inzidenzzahlen ist dazu allerdings nicht geeignet. Das war es auch zu keinem Zeitpunkt.
Ist es denn richtig, alle Vorsichtsmaßnahmen beendet zu haben?
Aber ja, wenn wir sofort daran erinnern, dass alle Maßnahmen beenden nicht heißt, jegliche Hygiene zu beenden. Das gilt besonders für Krankenhäuser. Wir kehren lediglich zurück auf den vorpandemischen Stand der Hygiene-Standards. SARS-CoV2 stellt jedoch schon seit einiger Zeit keine Bedrohung mehr dar, die es rechtfertigen würde, aufgrund des Präventionsanliegens Grundrechte einzuschränken.
Wie hat sich im Laufe der Zeit der Umgang mit einer Infektion verändert?
Die vorbeugenden Maßgaben haben sich ja im Laufe der letzten drei Jahre mehrfach verändert, entsprechend der Umgang mit den Infektionen.
Ist der Umgang gelassener geworden?
Das kann man überwiegend schon beobachten. Einige tragen jedoch weiterhin Masken. Dies ist nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel bei einer schweren Immunsuppression, möglicherweise sachlich gerechtfertigt. Ich möchte allen anderen Menschen zurufen: Wenn Sie schon glauben, weiterhin Masken tragen zu müssen, dann in engen Innenräumen mit schlechter Belüftung. Draußen im Freien waren und sind Masken sinnlos.
Ist es denn richtig, gelassener mit einer Infektion umzugehen?
Im Grundsatz ja, was ja auch sehr berechtigt ist, da die Pathogenität (die Fähigkeit, Krankheit zu erzeugen, Anmerkung der Redaktion) des Virus bei jetzt weitgehend hergestellter Immunität der Bevölkerung eine sehr andere geworden ist.
Nähert sich der Verlauf einer Infektion also immer stärker dem eines grippalen Infekts?
In der überwiegenden Anzahl der Fälle ist das tatsächlich der Fall. Natürlich gibt es, wie bei vielen anderen Erregern, selten schwere Verläufe.
Sehen Sie als Infektiologe Unterschiede in den Verläufen zwischen Geimpften und Ungeimpften?
Der Unterschied liegt darin, dass schwere Verläufe heute selten sind. Die klinischen Zeichen der Erkrankung, ob leicht oder schwer, unterscheiden sich nicht.
Sollte man sich einmal im Jahr gegen Covid impfen lassen?
Das halte ich noch für eine offene Frage. Der Impfschutz lässt zweifellos mit der Zeit nach. Zunächst wäre nach Risikoprofilen zu fragen. Die Frage ist dann zum einen, welche epidemische Lage in der kalten Jahreszeit zu erwarten ist und zum anderen, ob einfaches erneutes Impfen die richtige Antwort ist. Und mit welchem Impfstoff.
Was haben Sie im Laufe der Zeit über Covid gelernt? Wo lagen Sie richtig? Wo lagen Sie daneben?
Über SARS-CoV2 und Covid haben wir alles neu lernen müssen. Für den zweiten Teil der Frage nur so viel: Niemand hat sich die Infektionswellen in der Form vorstellen können, wie sie aufgetreten sind, nahezu alle Prognosen über die Pandemiedynamik lagen falsch. Was wir noch lernen müssen: die wissenschaftlichen Stimmen kontrovers zu Wort kommen zu lassen. Wissenschaft kann ohnehin nur kompetent beraten, indem sie Wissen und Unsicherheiten säuberlich zu trennen sucht. Wissenschaft kann und soll sich den Unsicherheiten in der Forschung widmen. Entscheidungen muss die Politik treffen.
Sollten wir uns wieder die Hand geben? Es gibt ja wohl keinen Nachweis für eine Übertragung durch Handkontakt.
Aber selbstverständlich! Kontaktinfektionen, etwa durch Händegeben, sind bei SARS-CoV2 praktisch nicht relevant. Aber auch hier gilt: Ich gebe gerne die Hand einem Anderen, wenn dieser die Alltagsregeln der Hygiene befolgt.
>>> ZUR PERSON
■ Professor Santiago Ewig ist Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Infektiologie am evangelischen Krankenhaus in Eickel. Die Klinik ist Teil des Thoraxzentrums Ruhrgebiet mit den Standorten Eickel und Augusta-Krankenhaus in Bochum.
■ Die Klinik ist von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie als Zentrum für Klinische Infektiologie zertifiziert.