Herne. Die Eröffnung eines Cafés für die Herner Drogenszene löste im Umfeld Ängste und Unruhe aus. Wie die erste Bilanz ausfällt, wo es Probleme gibt.
Unter starken Bedenken der Nachbarschaft ist Mitte Juli an der Freisenstraße in Wanne das Café 22 offiziell an den Start gegangen. Die erste Bilanz der Arbeit dieser von Stadt und Jobcenter unterstützten Anlaufstelle für Suchtkranke fiel am Mittwoch im Sozialausschuss einerseits positiv aus. Andererseits berichtete Kristin Pfotenhauer vom Träger Kadesch über große Baustellen und übermittelte eine erschreckende Zahl: Allein von Juni bis September seien ihnen fünf Todesfälle aus der Drogenszene in Herne bekannt geworden.
Die von der Polizei veröffentlichte Zahl der Drogentoten ist in Herne seit einigen Jahren dramatisch gestiegen, konkret von 0 im Jahr 2018 über 4 (2019) auf 11 und 10 in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021. Und aktuell? Nach derzeitigem Stand habe es in Herne in diesem Jahr bislang fünf Rauschgifttote gegeben, erklärte die Polizei am Donnerstag auf Anfrage der WAZ. Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer nicht zuletzt aufgrund von Definitionsfragen – wann ist ein Verstorbener ein Drogentoter? – deutlich höher liegt.
1000 Spritzen in sechs Wochen ausgegeben
Zurück zur Café-22-Bilanz: Die Verringerung der Zahl der Todesfälle sei neben dem Abbau von Vorurteilen und der Herstellung einer Versorgungsstruktur ein zentrales Ziel, erklärte Kristin Pfotenhauer im Sozialausschuss. Die von der Geschäftsführerin der Gesellschaft zur Förderung der Jugend- und Suchtkrankenhilfe (Kadesch) präsentierte erste Bilanz für die Zeit von der Eröffnung Mitte Juli bis Ende August spricht dafür, dass die Einrichtung von der Szene angenommen wird. Im Schnitt etwa 20 bis 25 Besucherinnen und Besucher kämen täglich in die Räume der ehemaligen Gaststätte „Warsteiner Stuben“ an der Freisenstraße 22, so Pfotenhauer. Über die „Safer Use Ausgabe“ seien in den sechs Wochen knapp 1000 Spritzen verteilt sowie etwa 900 gebrauchte wieder zurückgenommen worden.
Neben unzähligen persönlichen Gesprächen/Beratungen seien unter anderem auch in in drei Fällen unter akuter Suizidgefahr stehende Klienten ins Krankenhaus vermittelt worden. Unterstützend aktiv geworden seien sie außerdem unter anderem bei der Wohnungssuche (2 Fälle), bei der Vermittlung in Substitution (5), Kriseninterventionen im Café (5) und Therapievermittlungen (2).
Zum Team des Café 22 – Träger sind Kadesch, das St. Marien Hospital Eickel und die Gesellschaft freie Sozialarbeit – zählten 3,5 feste Stellen (Soziarbeit/Anleitung) sowie mittlerweile elf vom Jobcenter finanzierte sogenannte AGH-Stellen für Hartz-IV-Empfänger. Diese geben unter anderem Mahlzeiten und Getränke aus, kaufen ein und sind für die Reinigung zuständig. Die Tätigkeiten sollen möglichst noch ausgeweitet werden auf Aufgaben wie Baumscheibenpflege, Müllsammlungen im Umfeld oder Herstellung von Pflanzkästen für die Wanner Innenstadt.
Der SPD-Stadtverordnete Frank Salzmann betonte, dass die Bedenken in der Nachbarschaft längst nicht mehr so groß seien wie vor der Eröffnung: „Viele Anwohner, mit denen ich gesprochen haben, haben mir berichtet, dass es zeitweise sogar ruhiger geworden sei. Und es sei auffällig, dass es sauberer geworden sei.“
Forderung nach Konsumräumen und Notschlafstellen
Kristin Pfotenhauer führte in der Ausschusssitzung im Eickeler Sud- und Treberhaus aber auch eine Reihe von „Barrieren und Hindernissen“ an und funkte gleich mehrfach SOS. So sei der gesundheitliche Zustand der Klientel „stellenweise mehr als besorgniserregend“. Außerdem reiche die personelle und finanzielle Ausstattung nicht aus. Erschwert werde die Arbeit zudem durch große bürokratische Hemmnisse (Ausweis, Meldeadresse, Krankenversicherung etc.)., die wiederholt zum Abbruch des Kontakts zur Klientel geführt habe. Die diplomierte Sozialarbeiterin versäumte es nicht, in mehreren Punkten Handlungsbedarf für ganz Herne anzumelden. Konsumräumlichkeiten für die Drogenszene fehlten zurzeit ebenso wie Notschlafstellen mit kurzfristigen Aufnahmemöglichkeiten sowie speziellen Angeboten für Frauen.
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Aus der Politik gab es Lob, Anerkennung und den Hinweis, dass es eine solche Einrichtung in Herne schon viel früher hätte geben müssen. Außerdem gab es deutliche Signale, dass der Ausschuss aktiv zur Lösung finanzieller und personeller Probleme beitragen will.
Abriss der „Schutzhütte“ im Postpark: Kritik an der Stadt
Kadesch-Geschäftsführerin Kristin Pfotenhauer dankte ausdrücklich Stadt und Jobcenter für deren Unterstützung, fand aber auch Worte der Kritik.
Der Abriss der bisherigen „Schutzhütte“ der Drogenszene im Wanner Postpark hätte von der Stadt anders organisiert werden müssen, so ihr Vorwurf. Die Aktion sei ohne Vorabinformation erfolgt. Betroffene seien erschüttert gewesen, weil sie dabei ihr Hab und Gut verloren hätten.
Was sagt die Stadt? Die Ruine der Schutzhütte im Postpark sei nach einem Brand im vergangenen Winter aufgrund der Einsturz- und Verletzungsgefahren für die Nutzung gesperrt worden, erklärt Stadtsprecherin Anja Gladisch am Donnerstag auf Anfrage der WAZ. Die Verwaltung habe die Überreste der Hütte Ende August entfernt.
Eine vorherige öffentliche Mitteilung über derartige Arbeiten ergehe in der Regel nicht. Durch die Beteiligung unterschiedliche Bereiche der Verwaltung bei der Umsetzung des gesamten Prozesses sei es offenbar „zu einem Kommunikationsdefizit mit den vormaligen Nutzern der Schutzhütte gekommen, was rückblickend zu bedauern ist“, so Gladisch.
Wie die Polizei den Begriff „Rauschgifttoter“ definiert
Ein Verstorbener gilt aus Sicht der Polizei Herne als ,Rauschgifttoter’ bei Todesfällen, „die in einem kausalen Zusammenhang mit dem missbräuchlichen Konsum von Betäubungsmitteln, Neue psychoaktive Stoffe (NpS), Ausweichmitteln oder Ersatzstoffen (auch in Kombination mit Arzneimitteln) stehen.“
Das gelte insbesondere infolge von Überdosierung und langzeitigem Missbrauch sowie bei Selbsttötung aus Verzweiflung über die Lebensumstände oder unter Einwirkung von Entzugserscheinungen.
>>> Die NRW-Landesregierung über den Anstieg der Todesfälle ab 2020
Auf Anfrage der SPD im Landtag führte das NRW-Gesundheitsministerium im August 2022 mehrere Gründe für den starken Anstieg der Zahl der Rauschgifttoten im Jahr 2020 und 2021 an. Die Entwicklung sei aber wohl insbesondere auf die deutliche Steigerung der Todesfälle bei Langzeitkonsumierenden um rund 70,6 Prozentpunkten zurückzuführen, hieß es.
Auch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdowns könnten eine Rolle gespielt haben, so das Ministerium, weil niedrigschwellige Angebote und flankierende Maßnahmen erschwert worden oder gar nicht durchgeführt worden seien.