Herne. Renate Hildburg vom Eine Welt Zentrum Herne betreut die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Was sie bei ihrer Arbeit erlebt.
Unter falschen Vorwänden hergelockt, verkauft, versklavt, misshandelt: Rund 400 Menschen sind im Jahr 2020 nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) deutschlandweit von Menschenhändlern in die sexuelle Ausbeutung gezwungen worden. Die Dunkelziffer, schätzen Experten, dürfte wesentlich höher liegen. Als eine von acht Anlaufstellen in NRW hilft die Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel des Herner Eine Welt Zentrums den Betroffenen. Im WAZ-Interview erklärt Sozialarbeiterin Renate Hildburg, wie gefährlich die Strukturen sind – und mit welchen Hindernissen die Frauen konfrontiert sind, die sich aus den Fängen ihrer Peiniger lösen.
Wir befinden uns mitten in Herne. Müssen wir davon ausgehen, dass sich hier um uns herum eine nicht geringe Zahl von Opfern von Menschenhandel aufhält?
Davon kann man ausgehen. Wir in der Herner Beratungsstelle betreuen etwa 30 bis 40 Fälle pro Jahr. Darunter sind aber auch Frauen, die sich nur einmal melden und dann sofort wieder untertauchen. Das Dunkelfeld ist sicherlich groß.
Aus welchen Ländern kommen die Opfer?
Zurzeit kommt die überwiegende Zahl der Frauen, die wir betreuen, aus Gambia und Guinea. Das ist aber immer unterschiedlich. Als wir vor 30 Jahren mit der Arbeit anfingen, kamen die Frauen vor allem aus dem Osten: Russland, Ukraine, Tschechien, Polen. Im Moment konzentriert es sich sehr auf afrikanische Länder.
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Also Länder, in denen extreme Armut herrscht.
Und in denen Frauen keine Rechte haben. Junge Mädchen werden dort oft mit alten Männern verheiratet, die unter Umständen schon andere Frauen haben und sie sehr schlecht behandeln. Aus diesem Grund wollen sie fliehen und geraten dann in die Fänge von Menschenhändlern.
Was wird den Frauen versprochen?
Zum Beispiel, dass sie eine Ausbildung machen können, dass sie als Babysitterin oder Kellnerin arbeiten können, um so die Reisekosten und die Beschaffung von Pässen abzuarbeiten. In Deutschland erfahren sie dann meist, dass sie in der Prostitution arbeiten müssen.
Gibt es auch männliche Opfer?
Die gibt es: Männer, die aus den gleichen Gründen und aus den gleichen Ländern hierher kommen und dann ebenfalls in der Zwangsprostitution landen. Wir hatten bisher einen Fall, aber auch dort ist die Dunkelziffer sicher hoch.
Auf welchem Weg kommen die Opfer nach Deutschland – und was passiert mit ihnen, sobald sie hier sind?
Das können wir meist gar nicht genau nachvollziehen. Oft ist es so, dass die Frauen in anderen Ländern landen und dann in Lkw über die Grenze geschmuggelt werden. Im Heimatland wird ihnen gesagt: „Warte am Flughafen, da holt dich jemand ab.“ Sie wissen aber gar nicht, wer das ist. Die Vermittler aus den Heimatländern sind dann plötzlich nicht mehr erreichbar. Häufig werden sie noch ein paar Mal an andere Orte gebracht und kommen dann in irgendwelche Wohnungen oder Bordelle.
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Wer sind die Täter?
Das können Freunde der Familie sein, die Kontakt zu irgendwelchen Banden haben. Es können aber auch Menschen sein, die die Frauen auf der Straße ansprechen. In afrikanischen Ländern ist es üblich, dass man als eine Art Geschäft einen Tisch aufstellt und die darauf liegenden Sachen verkauft. Wenn ein Verkäufer einer vorbeilaufenden Frau sagt: „Ich kann dir ein besseres Leben in Europa verschaffen“, gehen viele Frauen einfach mit, weil sie keinen anderen Ausweg wissen.
Welcher Mittel bedienen sich die Täter, um ihre Opfer unter Druck zu setzen?
Ihnen werden zum Beispiel die Pässe weggenommen. Oder sie müssen sich einem Voodoo-Zauber unterziehen und schwören, dass sie nicht mit der Polizei sprechen, die Täter nicht verraten. Das kommt in Nigeria besonders häufig vor.
Das heißt: Für die Frauen ist es sehr schwierig, der Situation zu entkommen.
Sie wissen ja nicht, wohin sie gehen können. Außerdem sind sie oft so sozialisiert, dass sie sich unterordnen, sich nicht zur Wehr setzen, keine Fragen stellen.
Wie kommen die Frauen dann zu Ihnen – und wie helfen Sie?
Zum Teil über die Polizei, zum Teil über andere Beratungsstellen. Manchmal sind es auch Selbstmelderinnen, die unsere Adresse irgendwoher haben und dann vor unserer Tür sitzen. Es kommt auch vor, dass ein Freier anruft, dem etwas komisch vorgekommen ist und der der Frau helfen möchte. Wir sorgen dann erstmal dafür, dass die Frauen sicher untergebracht werden. Wenn sie aus Afrika kommen und hierbleiben wollen, bleibt oft nur, Asyl zu beantragen. Auch dabei helfen wir. Außerdem kümmern wir uns um Arztbesuche und Behördenbegleitung, unterstützen sie beim Deutschlernen und helfen bei vielen anderen individuellen Problemen.
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Begleiten Sie die Frauen manchmal auch längere Zeit?
Ja. Wir helfen ihnen dann etwa dabei, eine Wohnung zu finden oder Kindergeld zu beantragen, wenn sie Mütter sind. Solche Behördenangelegenheiten kennen die Frauen nicht. Sie wissen nicht, dass es wichtig ist, alle Papiere aufzubewahren. Außerdem kommen sie ja aus sehr ärmlichen Verhältnissen, sodass unsere Art zu wohnen für sie fremd ist: In einer Mietwohnung wohnen, den Flur putzen, einen Herd bedienen – das muss in einigen Fällen gezeigt werden. Die meisten Frauen können kein Deutsch. Englisch und Russisch decken wir ab, ansonsten arbeiten wir mit Dolmetschern zusammen. Es ist allerdings gar nicht so einfach, Dolmetscher für die verschiedenen Stammessprachen zu finden. Frauen, die in ihrem Heimatland zur Schule gegangen sind, schaffen es in der Regel schneller als solche, die gar keine Bildung hatten.
Wie schaffen es die Frauen, ihre Gewalterfahrungen emotional zu bewältigen?
Sie verdrängen sehr viel. Viele Frauen möchten auch keine psychologische Hilfe in Anspruch nehmen – denn das gibt es in Afrika nicht. Dort herrscht oftmals die Meinung: Wer zum Psychologen geht, ist verrückt im Kopf. Wir schaffen es aber in der Regel, einen guten Zugang zu den Frauen zu finden.
Welche Warnzeichen verraten Freiern, dass die Frau, die sie gerade aufsuchen, eine Zwangsprostituierte sein könnte?
Zum Beispiel, dass die Frau überhaupt kein Deutsch spricht. Dass sie apathisch wirkt, unter Drogen gesetzt wurde. Oder dass man einfach das Gefühl hat, dass sie das nicht freiwillig macht. Wer nicht völlig abgestumpft ist, merkt das.
>>> Zur Person
- Renate Hildburg ist im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen und hat an der Fachhochschule Dortmund Soziale Arbeit studiert.
- Seit 2008 arbeitet die 62-Jährige bei der Beratungsstelle des Eine Welt Zentrums Herne. Zuvor hat sie schon neun Jahre lang in Essen mit Opfern von Menschenhandel gearbeitet.