Herne. In der Corona-Pandemie werden viele Patienten künstlich beatmet. Dr. Roland Heipel spricht darüber, wie sie entwöhnt werden.
In der Corona-Pandemie werden viele Patienten künstlich beatmet. Dr. Roland Heipel, Leiter des Weaning-Zentrums im EvK in Eickel, spricht darüber, wie sie entwöhnt werden.
Herr Dr. Heipel, der Begriff Weaning-Zentrum wird den meisten Menschen unbekannt sein. Können Sie beschreiben, was die Aufgabe des Zentrums ist?
Heipel: Der Begriff Weaning ist dem Englischen entlehnt und bedeutet Entwöhnung. In diesem Fall ist die Entwöhnung von der künstlichen Beatmung gemeint. Das Weaning-Zentrum im EvK in Eickel besteht aus drei Elementen. Der erste Teil gehört zur Intensivstation. Dorthin übernehmen wir diejenigen, die noch nicht stabil genug sind, um den Entwöhnungsprozess von der künstlichen Beatmung einleiten zu können. Der zweite Teil ist die eigentliche Weaningstation mit neun Plätzen, wo unsere Patienten in der Regel die längste Zeit ihres Aufenthalts verbringen. Der dritte Teil ist die Station für außerklinische Beatmung, wo Patienten, die in Heimen, Wohngemeinschaften oder zu Hause beatmet werden müssen, betreut werden.
Was ist eigentlich so sensibel für den menschlichen Körper bei der künstlichen Beatmung?
Die Atemmuskulatur bildet sich sehr schnell zurück, wenn ihr die Arbeit von einem Beatmungsgerät abgenommen wird. Bereits 24 Stunden nach Beatmungsbeginn kann man in Experimenten erkennen, wie die Muskelzellen schwinden.
Wie arbeitet denn das Beatmungsgerät?
Der menschliche Körper ist so konstruiert, dass sich das Zwerchfell, als wichtigster Teil der Atemmuskulatur, bei der Einatmung nach unten ausdehnt und so einen Unterdruck erzeugt, mit dem die Luft von außen eingesogen wird. Beatmungsgeräte erzeugen Überdruck, durch den von außen über die Beatmungsschläuche aktiv Luft in den Körper geleitet wird. Je größer der benötigte Druck ist, um die Lunge ausdehnen zu können, desto mehr wird die Lunge in Mitleidenschaft gezogen. So kommt es durch die häufig lebensrettende künstliche Beatmung andererseits auch unbeabsichtigt zu einer Schädigung des Lungengewebes.
Bei welchen medizinischen Fällen kommt Weaning zum Einsatz?
Einen großen Teil machen Erkrankungen aus dem Bereich der Inneren Medizin, insbesondere der Lungenheilkunde, aus, wie zum Beispiel Lungenentzündungen und Patienten mit COPD, also dem Überschneidungsbild aus chronischer Bronchitis und Lungenemphysem, oft „Raucherlunge“ genannt. Eine weitere häufig vertretene Gruppe sind die Patienten, die für eine größere Operation intubiert und beatmet werden mussten und die dann nach der Operation so geschwächt sind, dass die Beatmung nicht so rasch wieder beendet werden kann.
Wie sieht das Weaning selbst aus? Ist das Bodybuilding fürs Zwerchfell?
Da gibt es sicherlich Parallelen, allerdings ist das Bild eines Konditionstrainings zutreffender. Die Patienten werden, sobald sie gewisse Stabilitätskriterien erfüllen, von der Beatmungsmaschine getrennt und müssen selbstständig atmen. Am Anfang belassen wir es in der Regel bei einer halben Stunde. Mit der Zeit werden die Trainingsintervalle ohne Maschine verlängert und die Anzahl an Einheiten pro Tag gesteigert. Dabei muss unbedingt vermieden werden, dass man die Atemmuskulatur überlastet. Denn dadurch kann man bereits erzielte Fortschritte wieder zunichte machen und den gesamten Prozess zurückwerfen. Der Belastungsaufbau ist höchst individuell. Wir freuen uns über jede Minute mehr an selbstständiger Atmung, die der Patient schafft.
Gibt es weitere Aspekte?
Die Erkennung und Behandlung von Schluckstörungen sowie die Entfernung des Schleims, der sich in den Atemwegen bildet, sind von äußerster Wichtigkeit, da diese beiden Problemfelder nahezu bei allen Patienten mit künstlicher Beatmung über einen Luftröhrenschnitt auftreten. Darüber hinaus müssen Infektionen verhindert bzw., wenn sie trotz aller Maßnahmen auftreten, behandelt werden. Abgesehen von diesen Weaning-spezifischen Aufgaben, muss man im Prinzip auch alle weiteren Organe im Blick haben, denn häufig sind auch das Herz, die Nieren, die Leber, der Magen-Darm-Trakt und nicht zuletzt das Gehirn, insbesondere zu Beginn des Weanings, in Mitleidenschaft gezogen. Gerade die Vielschichtigkeit des Weaningvorgangs und die interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen machen ihn in meinen Augen auch medizinisch so anspruchsvoll. Ein häufig unterschätzter Faktor ist die Möglichkeit, den Patienten auf der Weaningstation eine deutlich ruhigere Umgebung bieten zu können. Wir verfügen dort ausschließlich über Einzelzimmer, in denen es einfacher gelingt, den Tag-Nacht-Rhythmus einzuhalten und störende Einflüsse fernzuhalten als auf Intensivstationen. Dort ist deutlich weniger Akutbetrieb, auch durch weniger Notfallsituationen und damit verbundenen Alarmierungen. Dies hilft eine bessere Balance zwischen Therapieeinheiten und Erholungsphasen zu schaffen.
Wie lange dauert die Behandlung?
Auch dies ist sehr individuell. Drei bis sechs Wochen sind so der übliche Rahmen, aber es gibt Ausreißer nach oben und nach unten. Einige wenige Patienten lassen sich auch unter optimalen Bedingungen nicht von der Beatmung entwöhnen. Ausschlaggebend ist häufig der Zustand des Patienten vor dem Ereignis, das ursprünglich zur Beatmung geführt hat. Je besser die Startvoraussetzungen, sprich je fitter der Patient im Vorfeld war, desto besser ist auch die Prognose für ein erfolgreiches Weaning.
Wie hat sich die Auslastung des Zentrums seit Beginn der Corona-Pandemie entwickelt?
Das Zentrum war auch vor der Pandemie schon durchgehend voll ausgelastet. In der ersten Welle im Frühjahr befanden sich unter den Weaning-Patienten nur drei mit COVID-19. Von der zweiten Welle wurden wir viel stärker getroffen. Seit dem Spätsommer haben wir permanent COVID-Patienten im Weaning-Zentrum. Der letzte Herbst und der jetzige Winter mit Corona waren und sind sicherlich eine besondere Herausforderung. Zwar ist durch die zwischenzeitliche Verschiebung vieler elektiver Eingriffe bzw. Operationen ein vorübergehender Rückgang an Weaninganfragen zu verzeichnen gewesen, jedoch wird dieser Umstand angesichts der durch die strikten Hygienemaßnahmen sehr arbeitsintensiven COVID-Patienten ausgeglichen.
Kommt dem Weaning-Zentrum in der Pandemie eine besondere Bedeutung zu?
Eindeutig ja. Laut Positionspapier „Weaning und Corona“ der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin vom 15. Dezember ergeben sich zwei Aufgaben: Erstens unmittelbare Entlastung der Intensivstationen durch die Übernahme von Patienten, idealerweise solche mit hohem Entwöhnungspotential. Zweitens Ausschöpfung des Beatmungsentwöhnungspotentials von Patienten, die sich bereits in Beatmungsheimen befinden. Dadurch sollen personelle Ressourcen im Bereich der Intensivpflege freigesetzt werden, wo bekanntlich großer Fachkräftemangel herrscht.
Gibt es bei den COVID-19 Patienten eigentlich andere und neue Probleme im Vergleich zu normalen Fällen?
Es handelt sich um ein ganz neues Krankheitsbild, das wir erst kennenlernen mussten, welches für lange und schwere Verläufe sorgt. Beim Weaning sieht man häufig wellenartige Verläufe mit besseren und schlechteren Tagen, Fortschritten und Rückschlägen. Bei COVID-19 hat man den Eindruck, dass die Schwankungen erheblich stärker sind. Insbesondere sehen wir viel häufiger unerwartete Verschlechterungen. Auch eine Blutgerinnselbildung oder eine Verschleppung eines Blutpfropfs in die Blutbahn, also Lungenembolien und Schlaganfälle treten bei COVID-Patienten viel häufiger auf als bei den anderen Patienten. In jedem Fall würde man sich besser wirksame Medikamente wünschen als die, die uns bislang zur Verfügung stehen. Hoffentlich können die mittlerweile zugelassenen Impfstoffe die Erwartungen erfüllen, die wir in sie setzen.
>> ZUR PERSON
Dr. Roland Heipel (geb. 1978) ist Facharzt für Innere Medizin (Internist), Facharzt für Pneumologie (Pneumologe) sowie Notfallmedizin und Schlafmedizin.
Er ist seit 2012/2013 Oberarzt Klinik für Pneumologie und Infektiologie am EvK Herne. Von 2016 bis 2018 hatte er die gemeinsame Leitung der Weaningstation mit Dr. Matthias Sichau. Seit 2018 ist er Leiter der Weaningstation und Verantwortlicher für die Rezertifizierung des Weaningzentrums.