Herne. Ein halbes Jahr Corona: Prof. Santiago Ewig spricht über den bisherigen Umgang mit dem Virus, Konzepte für die Zukunft und Infektionszahlen.
Deutschland lebt seit rund einem halben Jahr mit der Corona-Pandemie. Prof. Santiago Ewig, Infektiologe und Chefarzt am EvK Eickel, spricht über den bisherigen Umgang mit dem Virus, Aussichten und Konzepte für die Zukunft und die Bedeutung von Infektionszahlen.
Herr Professor Ewig, Herne war in dieser Woche bei den Corona-Fallzahlen auf Platz 2 bundesweit. Wie bewerten Sie diese Tatsache?
Ewig: Man sollte diese Rankings nicht überbewerten. Man muss die Zahlen in einem größeren Rahmen betrachten. Deutschland hat am Donnerstag zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder über 1000 Neuinfektionen pro Tag gehabt, in NRW 425. Wir haben einen gewissen Anstieg zu verzeichnen. Wenn man aber seit Mitte Juni schaut, haben wir in NRW eine Wellenbewegung mit Auf und Ab, die noch keinen klaren Trend nach oben zeigt.
Und der zweite Platz für Herne?
Ist eine Momentaufnahme. Aktuell gibt es zahlreiche lokale Kleinausbrüche, die die lokale Statistik enorm beeinflussen. Das würde ich nicht überbewerten.
Es gibt ja den Fall einer infizierten Mitarbeiterin im EvK in Eickel. Welche Pläne greifen, wenn sich eine Infektion bestätigt?
Das Vorgehen ist vom Robert-Koch-Institut vorgegeben, zudem lagen bereits konkretisierte eigene Standards vor, wie in solchen Fällen vorzugehen ist. Wir haben keinen Ausbruch, weil es im Krankenhaus keine Übertragung gab. Wir legen jedoch Wert auf höchste Sicherheit für die Patienten und unsere Mitarbeiter, daher wenden wir ähnliche Regeln wie bei einem Ausbruch an: Testung der Mitarbeiter, der Patienten und des nicht-medizinischen Personals; verschärfte Hygiene- und Besucherregeln, Aufnahmestopp auf der betroffenen Station. All das machen wir, um einen möglichen Ausbruch früh zu identifizieren bzw. im Keim zu ersticken.
Zur Person
Professor Santiago Ewig ist Chefarzt der Klinik für Pneumologie und Infektiologie am evangelischen Krankenhaus in Eickel. Die Klinik ist Teil des Thoraxzentrums Ruhrgebiet mit den Standorten Eickel und Augusta-Krankenhaus in Bochum.
Die Klinik ist von der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie als Zentrum für Klinische Infektiologie zertifiziert.
Es gibt zwar mehr Infizierte, aber weniger schwere Erkrankungen...
...die Fallzahlen und die Todesfallrate scheinen ein anderes Verhältnis zu haben als am Anfang der Pandemie. Eine plausible Erklärung dafür ist, dass wir mehr testen. Dadurch finden wir mehr Fälle (die sogenannte „Prävalenz“), aber nicht unbedingt mehr schwere Fälle. Wenn sich das bestätigt, ist das sicher ein Grund, die bisherige Teststrategie noch einmal zu prüfen.
Inwiefern?
So wie Herr Professor Drosten es vorgeschlagen hat: weniger den einzelnen Infektionen nachgehen, sondern verstärkt die Infektiösen suchen. Es gibt Infizierte, die viele Neuinfektionen und solche, die kaum welche bewirken. Der Vorschlag lautet, danach zu suchen, ob eine Infektion zu einem „cluster“ gehört (einer Gruppe von Infektionen) und dann den Überträger frühzeitig zu identifizieren.
Wie beurteilen Sie die Strategie, dass sich Kita-Mitarbeiter und Lehrer jetzt regelmäßig testen lassen können?
Regelmäßig testen kann man in Bereichen, in denen es ein hohes Risiko gibt. Zum Beispiel in Seniorenheimen. Ob das in Schulen Sinn macht, darüber kann man diskutieren. Man darf nicht vergessen: ein adäquat durchgeführter Nasen-Rachenabstrich ist unangenehm bis schmerzhaft. Es kann zu Nasenbluten kommen, manche Personen, die mehrfach getestet werden, entwickeln Angstreaktionen. Das wird auch ein Problem bei Reiserückkehrern werden.
Wenn Sie auf den Verlauf der Pandemie schauen: Wie hat Deutschland die Krise gemeistert?
Aus meiner Sicht war der damalige Lockdown richtig, weil man nicht wusste, was auf uns zukommt. Er hat allerdings einen sehr, sehr hohen Preis gehabt, dessen ganze Dimension wir erst in einiger Zeit wahrnehmen werden. Wirtschaftlich, psychisch und medizinisch. Für die Jugend war die Situation besonders belastend. Man darf nicht unterschätzen, was es für junge Leute bedeutet, wenn sie in ihren Kontakten eingeschränkt sind oder nicht feiern dürfen. Wenn sie nicht in die Schule gehen dürfen. Das sind alles Dinge, die man nicht unterschätzen darf. Deshalb ist es richtig gewesen, recht frühzeitig den Lockdown wieder zu verlassen. Und Deutschland hat bei der Todesfallrate gerade im Vergleich zu anderen europäischen Staaten bislang sehr gute Ergebnisse erzielt.
Heißt das aus Ihrer Sicht, dass man die jetzige Situation, mit all den Dingen, die wieder erlaubt sind, aufrechterhalten kann?
Auf jeden Fall. Was wir auf keinen Fall brauchen, ist den Reflex, dass vor dem Hintergrund steigender Infektionszahlen wieder alles dicht gemacht wird. Wir brauchen eine neue Denkweise: Wie bekommt man es hin, trotz Epidemie so viel soziales Leben wie möglich zu schaffen? Ob Fußball, Kino oder Feiern: Alles, was zum sozialen Leben gehört, braucht eine Regelung, die Akzeptanz und das nötige Maß an Sicherheit bringt. Man muss dabei akzeptieren, dass es ein Restrisiko gibt. Es wird eine Basisrate an Infektionen verbleiben, so lange das Virus aktiv ist und es noch keine wirksame Impfung gibt.
Heißt das, dass die momentanen Zahlen durchaus tolerabel sind, weil es genug Krankenhauskapazitäten gibt, um schwere Fälle zu behandeln?
Ja. Die medizinischen Einrichtungen haben sich darauf eingestellt, einen hohen Anfall an schweren Fällen bewältigen zu können.
Würde das bedeuten, dass man mit diesen 1000 Neuinfektionen pro Tag, „leben“ könnte?
Womit man leben kann, ist eine politische und gesellschaftliche Entscheidung. Aber ich glaube, wir müssen uns mit solchen Zahlen für eine gewisse Zeit anfreunden, vielleicht sogar mit etwas höheren. Bleibt die Sterblichkeit weiterhin vergleichsweise niedrig, wäre das denkbar. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Sterblichkeit einer „normalen“ Lungenentzündung (jährlich etwa 200.000 Fälle in Deutschland) im Krankenhaus zirka 12 bis 13 Prozent beträgt. Nur etwa die Hälfte der Patienten sind sehr alt und schwer krank!
Was denken Sie über die Demonstration der Maskenverweigerer in Berlin?
In Berlin sieht man viele destruktive Kräfte aller radikalen politischen und kulturellen Lager, von denen man Abstand halten sollte. Dennoch wird in diesen Demonstrationen etwas Wichtiges sichtbar: Menschen können nicht in einer dauerhaften Alarmsituation leben. Das geht in die Richtung dessen, was ich vorhin gesagt habe: Wir dürfen nicht mehr fragen, ob Schulen und Hochschulen geöffnet werden, sondern wie, und wie sie dauerhaft geöffnet bleiben können, auch wenn Infektionen auftreten. Wir können der Jugend nicht dauerhaft verbieten zu feiern, wir müssen ihr vielmehr sagen, wie sie feiern kann. Das sollte jetzt das Ziel sein: Konzepte zu entwickeln, dass eine halbwegs sichere soziale Begegnung ermöglicht wird.
Wie kann so ein Konzept für den Herbst und Winter aussehen?
Ich habe keine Patentrezepte. Hier gilt es eben, kreative Lösungen zu entwickeln. Vielleicht sind raumlufttechnische Anlagen ein Teil der Antwort. In jedem Fall sollte man Hochrisikosituationen vermeiden: also viele Menschen in einen geschlossenen, engen und schlecht gelüfteten Raum. Sicher kann auf die Abstandsregel nicht verzichtet werden.
Wie lange müssen wir nach Ihrer Einschätzung noch mit dieser Situation leben?
Ohne Impfung ist heute ein Ende der Epidemie unabsehbar. Mindestens zwei Jahre, vielleicht auch länger. Aber es gab auch Epidemien, die abgeflaut sind, ohne dass man immer verstanden hat, warum. Bei der Hoffnung auf eine Impfung muss man vorsichtig sein. Normalerweise dauert die Impfstoff-Entwicklung Jahre; eine Abkürzung der Entwicklungszeit könnte die Sicherheit beeinträchtigen. Bei Komplikationen würde die Impfskepsis wachsen. Außerdem müsste man die Weltbevölkerung impfen. Allein in Deutschland müssten mindestens 50 Millionen Menschen geimpft werden. Das ist nicht leicht vorstellbar. Ich glaube, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass wir länger mit Corona leben müssen, als uns das lieb ist.