Herne. Zwei Herner Psychotherapeutinnen berichten, wie sie die Corona-Krise erleben. “Man sollte versuchen, eine Alltagsstruktur aufrecht zu erhalten.“

Die derzeitige Situation ist für uns alle ungewohnt. Wir sind verunsichert, haben Sorge, wie es weitergeht. Einen vermehrten Gesprächsbedarf aus Angst vor dem Coronavirus stellen die beiden befragten Herner Psychotherapeutinnen nicht fest. Es seien eher die Begleitumstände, die zu Problemen führten.

Die Situation akzeptieren

„Ängste vor der Coronakrise sind da, aber nicht so problematisch“, sagt Psychotherapeutin Dr. Regina Winkel. Existenzängste aufgrund von Kurzarbeit seien häufiger ein Thema. Auch junge Leute, die sich bewerben wollen, treten auf der Stelle. „Manche Patienten thematisieren, dass sie sich eingesperrt fühlen“, erklärt Dr. Winkel. Hier sei wichtig, zu akzeptieren, dass wir die Situation aktuell nicht ändern können und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. „Einige haben Ausgleichsaktivitäten gefunden, backen mehr oder probieren Neues.“

Wichtig sei zudem, sich nicht den ganzen Tag von den Sorgen anstecken zu lassen und auch nicht jede Sondersendung zum Thema zu schauen. „Man sollte sich auf Kernbotschaften begrenzen und die Zeit, die man darüber grübelt, einschränken und versuchen, eine Alltagsstruktur aufrecht zu erhalten.“ Dies sei gerade für Menschen mit Depressionen aktuell noch schwieriger. Die Einschränkungen verstärken die soziale Isolation und wegen der Antriebsstörungen gelinge es noch weniger, den Alltag zu strukturieren.

Videosprechstunden in der Corona-Krise

Dr. Regina Winkel bietet aktuell Videosprechstunden an. „Darüber können wir Aufgaben für Angst- oder Zwangspatienten austauschen, aber auch Erstgespräche führen.“ Das sei ein großer Vorteil, für alle, die aktuell lieber nicht in die Praxis kommen möchten. Die Videotherapie wird auch von den Patienten von Katarzyna Hantel, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, dankend angenommen.

Die Krise belaste vor allem Familien, die vorher schon keine stabile Basis im Sinne einer Alltagsstruktur hatten. „In ohnehin problematischen Familienkonstellationen, z.B. wenn Eltern selbst psychisch erkrankt sind oder gerade in einer Trennungssituation stecken, ist es deutlich schwieriger, ein gutes familiäres Klima zu etablieren“, erklärt die Therapeutin. Fakt sei, dass das Thema Corona tatsächlich jede Familie und jeden jungen Menschen beschäftige und in jedem Gespräch mit der Praxis Thema sei.

Einsamkeit und Strukturlosigkeit

„Viele Jugendliche können ihre derzeitigen Empfindungen wie Einsamkeitsgefühle, Strukturlosigkeit im Alltag im Zusammenhang mit den Kontaktbeschränkungen gut benennen.“ So höre Katarzyna Hantel häufiger den Satz: „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ohne Schule ist mir langsam langweilig.“ Meist werde aber nicht die Schule an sich vermisst, sondern die damit verbundenen sozialen Kontakte. Jüngere Kinder gehen mit dem Thema Corona eher so um, „dass sie die damit verbundene Stimmung zu Hause ,auffangen‘ und darauf reagieren.“

Hantel merkt, dass es für Jugendliche mit einer Depression sehr schwer ist, selbstständig eine vollständige Alltagsstruktur aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Zudem gebe es deutlich weniger Möglichkeiten für „positive Aktivitäten“, die im Rahmen einer Depressionsbehandlung eine besondere Rolle spielen. „Eine Jugendliche berichtete mir, wie stark sie daran leide, ,im echten Leben‘ nichts mit ihren Freunden unternehmen zu dürfen.“

Waschzwang als Herausforderung

Auch für Menschen, die an Zwängen leiden, können die mit der Corona-Pandemie in Zusammenhang stehenden Verhaltensregeln eine besondere Herausforderung darstellen. „Wer an einem Waschzwang leidet, versucht durch häufiges Händewaschen, Sicherheit zu gewinnen. Wo es bisher darum ging, zu erarbeiten, dass dieses Verhalten objektiv betrachtet nicht angemessen ist und den Zwang aufrecht erhält, sind diese Hygienemaßnahmen heute Teil der offiziellen Empfehlungen.“ Diesen Patienten falle es nun schwer, sich von ihrem Zwang zu distanzieren.

„Alle Beteiligten müssen sich verdeutlichen, dass der Wegfall von gewohnten Strukturen und das Nicht-Wissen, wann wieder ,Normalität‘ einkehrt, zu Verunsicherung führt. Diese Verunsicherung ist eine ganz normale menschliche Reaktion auf eine ungewöhnliche Situation“, betont Katarzyna Hantel. Es sei wichtig, unter Berücksichtigung des Entwicklungsstandes mit den Kindern darüber zu sprechen und Dinge zu erklären. „Das schafft ein Gefühl von Orientierung und Kontrolle.“

Medienkonsum von Kindern dosieren

Zusammen basteln, malen, einen Brief für die Großeltern gestalten oder kleine Turneinheiten können helfen, den Tag etwas aufzulockern. „Medien führen bei übermäßigem Konsum bei Kindern dazu, dass diese noch unausgeglichener werden könnten“, erklärt die Therapeutin. Eine sinnvolle Dosierung sei wichtig. Und schließlich: „Nur Eltern, die gut für sich sorgen, können auch gut für ihre Kinder sorgen.“ Erwachsene sollten sich „Kraftorte“ schaffen, um Energie zu tanken. Vielleicht einfach mal abends schön einzudecken wie im Restaurant und zu zweit bei Kerzenlicht speisen.

Mehr Infos

>>> Um Struktur in den Alltag zu bringen, kann man mit Kindern Tages- oder Wochenpläne erstellen. Darin enthalten sind feste Zeiten für Mahlzeiten, Arbeits-, Spiel- und Lernzeiten. Aber auch Zeiten, in denen sich jeder für sich beschäftigen kann.

>>> Bei angespannten Situationen stehen die Telefonseelsorge (0800 111 0 111) oder die „Nummer gegen Kummer“ (116 111) zur Verfügung.

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