Herne. Die Herner Physiotherapeuten müssen ihre Patienten behandeln, doch viele sagen ab. Ohne Rettungsschirm fürchten die Therapeuten um ihre Existenz.

Zum Erhalt der medizinischen Versorgungsstruktur zählen nicht nur Ärzte und Pflegepersonal sondern auch Heilmittelerbringer wie Logopäden, Physio- und Ergotherapeuten. Trotzdem werden sie bei geplanten Rettungsschirmen und finanziellen Unterstützungen nicht bedacht, kritisiert der Spitzenverband der Heilmittelverbände. Gespräche mit Herner Therapeuten machen deutlich, wie drastisch die Situation ist.

85 Absagen an einem Tag

„Wir hatten an einem Tag allein 85 Absagen“, sagt Jennifer Lange, Mitinhaberin von Fitplus Ergo- und Physiotherapie mit zwei Standorten und gut 20 Mitarbeitern. „Da lief bei uns das Kopfkino rauf und runter mit der Frage, wie soll es so weitergehen?“ Zum Glück habe sich dies etwas gelegt, aber die Situation sei trotzdem schwierig. „Es ist verständlich, wenn Patienten absagen – aber es ist auch schwierig zu entscheiden, was man raten soll.“ Manche Patienten haben ihre Termine direkt für vier Wochen gecancelt. Die erste Patientin sei allerdings schon wieder da: „Sie hatte zu starke Schmerzen.“

An Hygienemaßnahmen mache das Team alles, was möglich ist. Ebenso ist es in der Praxis von Konstantin Poliakov. Hier tragen die 25 Mitarbeiter an zwei Standorten selbst genähte Mundschutze. Eine komplette Schutzkleidung fehle aber. „Deshalb fallen viele Hausbesuche weg, da es sich um Hochrisikopatienten handelt“, erklärt Poliakov. Wer in die Praxis kommt, wartet nicht im Aufenthaltsraum, sondern draußen. „Wir holen die Patienten rein und lassen sie ihre Hände desinfizieren.“ Nach der Behandlung wird alles gründlich desinfiziert. Das alles nehme viel Zeit in Anspruch.

Teams werden aufgeteilt

Wichtig sei zudem, die Teams aufzuteilen und getrennt zu halten, um einen Komplettausfall bei Ansteckung zu verhindern. Bei Biele - Krankengymnastik und Massage hat das Team bereits vor drei Wochen ein Krisenmanagement beschlossen. Je nach Risiko des Patienten werden die Vorkehrungen aufgestockt bis hin zum Vollschutz mit FFP3-Masken, Handschuhen und Kittel. Alle sechs Praxen, davon vier in Herne, sind voneinander getrennt: „Die Praxisleiter besprechen alles über Videokonferenzen“, sagt Inhaber Christoph Biele, der insgesamt 70 Mitarbeiter beschäftigt. „Die Situation ist sehr komplex, da wir nicht nur unsere Mitarbeiter schützen, sondern auch unserem Versorgungsauftrag gerecht werden müssen.“

Diese hohe psychische Belastung laste aktuell auf allen Therapeuten. 50 bis 60 Prozent aller Termine wurden bei Christoph Biele abgesagt. „Manche werden von Familienmitgliedern auch gezwungen abzusagen“, weiß er. Wenn beispielsweise der Partner zur Hochrisikogruppe gehört und dieser und oft auch die Kinder beschließen, dass der andere Partner nicht mehr vor die Tür soll. „Das ist in vielen Fällen aber fatal, da diese Leute Schmerzen haben und unsere Hilfe benötigen.“

Patienten mit Beschwerden kommen gerne

Wie wichtig es ist, dass die Therapeuten ihre Arbeit weitermachen, zeigt ihnen das Feedback der Patienten. „Viele mit akuten Beschwerden sind sehr dankbar, dass sie kommen dürfen“, sagt Konstantin Poliakov. Es gebe sogar einige Neuaufnahmen, weil manche Therapeuten ihre Praxen schließen. Christoph Biele hat dafür allerdings kein Verständnis: „Wenn ich nicht zur Hochrisikogruppe gehöre, habe ich meinen Versorgungsauftrag zu leisten.“

Finanziell sei die Situation für alle drei durchaus prekär. Kurzarbeit wurde bereits angemeldet. „Man muss dabei bedenken, dass unsere Mitarbeiter mehr riskieren als der normale Bürger. Das Risiko sich anzustecken, ist höher und gleichzeitig bekommen sie weniger Geld wegen der Kurzarbeit.“ Christoph Biele sagt, dass bereits jetzt nicht kostendeckend gearbeitet werden kann. Konstantin Poliakov bestätigt dies: „Wir haben enorme Ausfälle und Umsatzeinbußen. Das ist existenzbedrohend.“ Wenn keine Unterstützung von Seiten der Politik käme, sehe es schlecht aus. „Ich sehe die Versorgung der Patienten sehr gefährdet.“

Bei Hilfspaketen außen vor

Bei den vom Staat auf den Weg gebrachten Hilfspaketen seien die Therapeuten bislang außen vor gelassen worden. „Selbst das Kurzarbeitergeld müssen wir ja erst einmal vorstrecken“, beklagt Biele, der gegenüber den Hilfen skeptisch ist. Er hat Ende 2019 die Firmenfahrzeuge auf Elektro umgestellt: „Auf die versprochene Förderung von 80.000 Euro warte ich heute noch. Mein Vertrauen in irgendwelche Versprechen ist aktuell gering.“

Auch Jennifer Lange fühlt sich allein gelassen. „Diese Regenschirme, die da aufgespannt werden, betreffen uns nicht.“ Vom Gesundheitsamt oder der Stadt gebe es keine Infos. „Und das Thema Kredite stößt mir ganz übel auf“, ärgert sie sich. Eine Hilfestellung wäre in Ordnung, aber einen Kredit aufzunehmen, wenn man eh schon am Boden liegt: „Das macht einfach keinen Sinn. Schließlich muss das zurückgezahlt werden.“

Eine positive Sache gebe es dennoch: Der Zusammenhalt und die Solidarität in den Teams sei großartig.

Online zum Patienten

>>> Christoph Biele testet mit seinem Team ab kommender Woche eine Online-Beratung.

>>> Diese eigne sich vor allem für den Erstkontakt und um abzuklären, wie dringend der Behandlungsbedarf ist.

>>> Per Videokonferenz könnten auch Übungen vermittelt werden.