Herne. Von den Höhen und Tiefen in diesem Jahr, seinem emotionalsten Moment bis hin zum Ausblick auf 2020: OB Frank Dudda im großen WAZ-Interview.
Zum Jahresende zieht Oberbürgermeister Frank Dudda (56) im Gespräch mit den WAZ-Redakteuren Lars-Oliver Christoph und Michael Muscheid Bilanz und blickt auf 2020.
Am 13. September 2020 findet die Kommunalwahl statt. Wir versuchen es ein letztes Mal: Treten Sie erneut als OB-Kandidat der SPD an?
Frank Dudda: Ich beschäftige mich sehr ernsthaft mit der Frage. Was ich heute sagen kann: Ich fühle mich fit und habe gute Ideen. Ich möchte aber über Weihnachten und den Jahreswechsel erst einmal die zurückliegenden vier Jahre in Ruhe Revue passieren lassen. Denn es war eine sehr ereignisreiche Zeit. Ich werde das jetzt nicht endlos in die Länge ziehen, sondern In der ersten Januar-Woche meine Entscheidung bekanntgeben.
2020 werden auch der Rat und die Bezirke neu gewählt. Würden Sie sich eine Neuauflage von Rot-Schwarz wünschen?
Die Kooperation von SPD und CDU funktioniert, die Fraktionen haben den Zukunftskurs der Stadt sehr gut unterstützt. Aber letztlich hängt die Fortführung der Kooperation von den Wählerinnen und Wählern ab. Und am Ende des Tages entscheiden die Parteien. Wenn es eine stabile Mehrheit gäbe, wäre Rot-Schwarz mit Sicherheit eine gute Option für die Stadt.
Im Blick zurück: War 2019 ein gutes oder ein schlechtes Jahr für Herne?
2019 war wieder ein gutes Jahr für Herne, das uns kräftig nach vorne gebracht hat.
Was war das wichtigste Ergebnis oder Ereignis?
Wir haben für den Haushalt erstmals die schwarze Null vermelden können. Der Begriff ist eigentlich negativ belegt, doch für Herne grenzt dies an ein Wunder. Wir versuchen das aktuell erneut hinzubekommen. Dann hätten wir unter grauenhaften finanziellen Rahmenbedingungen zweimal hintereinander einen ausgeglichenen Haushalt – das wäre ein Doppelwunder. Der ausgeglichene Haushalt ist wichtig, um unsere berechtigten Ansprüche gegenüber Bund und Land für einen fairen Finanzausgleich noch schärfer formulieren zu können.
Was war für Sie außerdem bemerkenswert?
Vor vier Jahren war es mein Traum, bei der Arbeitslosenquote unter zehn Prozent zu kommen. Als die Leiter der Arbeitsagentur und des Jobcenters mich zur Seite nahmen und sagten: Wir haben es geschafft – das war für mich der emotionalste Moment des Jahres. Es war dann nicht 9,9 Prozent, sondern sogar 9,6 Prozent – ein riesiger Sprung von 10,2 Prozent des Vormonats. Einfach nur toll. Und es hat gezeigt, dass unser Bündnis für Arbeit funktioniert.
Seit 2015 Oberbürgermeister in Herne
Frank Dudda (56) ist seit September 2015 Oberbürgermeister in Herne. Bei der OB-Wahl wurde er im ersten Wahlgang mit 55,9 Prozent der Stimmen gewählt. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer des Bundesverbands selbstständiger Physiotherapeuten (IFK e.V.).
Von 1994 bis 2015 war Dudda SPD-Ratsherr in Herne und seit 2004 SPD-Fraktionsvorsitzender.
Sein Abitur machte er am Otto-Hahn-Gymnasium. Nach dem Grundwehrdienst studierte er Jura an der Ruhr-Uni Bochum. 1996 promovierte er.
Frank Dudda ist verheiratet und hat einen Sohn.
Hat sich die Stadt für 2020 ein neues Ziel bei der Quote gesetzt?
Wir werden sehen, ob wir die Quote auch im Winter unter zehn Prozent halten können. Denn: Wir haben mit der starken Bauindustrie eine Branche hier vor Ort, in der witterungsbedingt die Quoten in kalten Jahreszeit steigt. Unser Anspruch ist aber, im Frühjahr/Sommer wieder unter 10 Prozent zu liegen.
Beim Blick in aktuelle Sozial- und Armutsberichte fällt auf, dass Herne mit Gelsenkirchen im Ruhrgebiet zu den Schlusslichtern zählt. Warum ist das trotz des Abbaus der Arbeitslosigkeit der Fall?
Wenn man sich diese Zahlen betrachtet, kann man sehr genau das Problem des Ruhrgebiets erkennen. Zum einen haben wir die Zuwanderung von Menschen, die nach Ablauf der dreijährigen Wohnsitzauflage zu ihren Verwandten und Bekannten ziehen. In Herne leben zum Beispiel viele Syrer. Sie müssen nicht mal Transferbezieher sein, sondern nehmen häufig gering bezahlte Arbeit an, auch wenn sie gut qualifiziert sind. Diese Menschen fallen zunächst 1:1 unter den Armutsbegriff, können aber später mal ein starkes Gewicht in der Gesellschaft übernehmen, wenn sie hier anerkannt sind. Ein zweiter wesentlicher Punkt: Wir haben eine seit Jahrzehnten verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit. Das können wir nicht von heute auf morgen ändern. Die Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften ist aber - wenn man sie von Zuwanderung trennt - sehr erfreulich. Das wird sich in zwei Jahren auch in der Statistik niederschlagen. Der dritte Effekt: Wir haben eine Zuwanderung aus Süd-Osteuropa. Ich bin fest davon überzeugt, der beste Weg, um aus dieser Armutsdebatte herauszukommen, ist Arbeit zu schaffen. Es gibt nach wie vor keine Armutsberichterstattung, die nicht auf diesen Zusammenhang beziehungsweise auf den Dreiklang hinweist: Schulabschluss, Ausbildung, Arbeit. Daran arbeiten wir mit Hochdruck, aber durch unsere Struktur im Ruhrgebiet wird uns das Thema noch länger beschäftigen.
Zurück zur Arbeitslosenquote: Wie groß ist denn der Herner Anteil an der positiven Entwicklung?
Ohne anderen Städten zu nahe treten zu wollen: Sie müssen mal schauen, wie sich andere Ruhrgebietskommunen entwickelt haben. Wir hatten alle die gleichen Rahmenbedingungen. Wenn Sie mir vor einem Jahr gesagt hätten, dass Herne Ende 2019 vor Essen und vor Dortmund steht oder sich von Gelsenkirchen und Duisburg entfernt, hätte ich die Wette nicht unbedingt gehalten. Ich war zwar optimistisch, weil ich wusste, welche Projekte wir in Bearbeitung haben. Aber wichtig ist am Ende aufm Platz – und da geht es um Zahlen. Ich bin mir sicher, dass wir einen wesentlichen Anteil daran haben, dass die Arbeitslosenzahlen auf einen historischen Tiefstand gesunken sind. . Das Investitionsklima hat sich in Herne drastisch verbessert, auch wenn beispielsweise die negative Berichterstattung des „Spiegel“ zu einigen Verzögerungen geführt hat.
Warum?
Potenzielle Investoren lesen natürlich auch den „Spiegel“. Es hat unheimlich viel Kraft gekostet, Unternehmensführungen zu erklären, dass sie keine Sorge um ihre Investitionen haben müssen und warum es sich lohnt, nach Herne zu kommen.
Bleiben wir noch einmal bei den positiven Ereignissen des Jahres. Was fällt Ihnen als Drittes ein?
Die Zahl der Ausbildungsplätze ist stark gestiegen. Mit dem Campus der St. Elisabeth-Gruppe und der zentralen Ausbildungswerkstatt von Steag haben wir eine Ausbildungskapazität in Herne, die wir niemals für möglich gehalten haben. Und noch ein Punkt: Wir hätten nicht erwartet, dass wir im dritten Jahr in Folge die Langzeitarbeitslosigkeit um eine zweistellige Prozentzahl verringern können.
Was bleibt Ihnen im Jahr 2019 besonders negativ in Erinnerung?
Wie schon gesagt: Die „Spiegel“-Berichterstattung war eine Katastrophe. Die „Besorgten Bürger“ sind ebenfalls Negativwerbung für die Stadt. Und die gesamte Debatte um die Kobra bewegte sich an der Grenze des Realen: zum einen die Belastung für die betroffenen Menschen, zum anderen aber auch der Umgang einiger Medien mit diesem Vorfall.
Sie haben Anfang September die Kampagne „Herne mit Respekt“ ins Leben gerufen. Sind Sie mit dem Start zufrieden?
Ja, der Start war richtig gut. Es machen bereits 30 Vereine, Verbände und Organisationen mit. Dabei fangen wir jetzt erst an, Schulen und Kitas anzuschreiben. Wir werden im nächsten Jahr auch Wettbewerbe ausloben. Kürzlich erhielt ich einen Überraschungsbesuch: Die Islamische Gemeinde Röhlinghausen und der katholische Kindergarten St. Barbara haben mir im Rathaus mit einer Tafel ihre Unterstützung signalisiert. Das ist Herne, so muss es sein: Wir leben friedlich miteinander und beurteilen uns nicht nach Herkunft oder Religionszugehörigkeit.
In welcher Weise leiden Sie persönlich als Oberbürgermeister unter der von Ihnen festgestellten zunehmenden Verrohung der Gesellschaft?
Ich leide darunter nicht mehr und nicht weniger als meine Mitarbeiter. Wir kriegen den ganzen Tag etwas ab. Das gilt auch für mich bei meinen täglichen Bürgerkontakten und in Briefen. Es gibt Lob wie „Sie machen das gut“, es gibt aber auch ganz wüste Bemerkungen. Im nächsten Jahr werde ich aus diesem Grund einen halben Tag im Ausländeramt verbringen. Auch dort ist der Ton sehr robust. Da müssen wir etwas tun.
2019 war auch das Jahr, in dem Rechte, Hooligans, Neonazis und Rocker getarnt als „besorgte Bürger“ regelmäßig durch Herne marschiert sind. Macht Ihnen das Sorge?
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Also zunächst mal: Man muss in Herne keine Sorgen haben. Hier gibt es funktionierende Strukturen von Verwaltung, Polizei und Justiz. Wir lösen unsere Probleme selbst. Wir brauchen keine zugereisten Hooligans oder Rechtsextreme aus Essen, Dortmund, Duisburg oder Mönchengladbach. Was mir weniger Sorge bereitet, aber für Kopfschütteln sorgt, das ist der Glaube, dass man mit ausgewiesener rechtsextremer Gesinnung irgendwie punkten kann. Das hat mich betrübt. Gestärkt hat mich der breite Protest der Herner Bürgerschaft, der gezeigt hat, dass es für so etwas in dieser Stadt nur wenig Nährboden gibt.
Müsste die Zivilgesellschaft in Herne nicht noch stärker Flagge zeigen? Müssten nicht noch mehr Menschen auf die Straße gehen?
Ich finde es zunächst mal gut, dass es so ein breites gesellschaftliches Bündnis gibt. Ich glaube, dass die Bevölkerung in Herne sich die Situation sehr genau ansieht und dass es jederzeit eine Bewegung geben könnte, die deutlich stärker wäre als das, was Woche für Woche schon geleistet wird. Es gibt für mich keinen Zweifel daran, wo die schweigende Mehrheit steht. Das erfahre ich in vielen, vielen Gesprächen und Kontakten. Und es ist nun einmal eine harte Herausforderung, Dienstag für Dienstag Flagge zu zeigen und auf die Straße zu gehen.
Sie hatten in der vergangenen Woche Besuch aus der neuen chinesischen Partnerstadt Luzhou. Warum ist diese Partnerschaft so wichtig für Herne?
Sie ist genauso wichtig wie die anderen Partnerschaften. Aber: Wir müssen Herne entwickeln. Da wir die Situation vorgefunden haben, dass in Deutschland häufig negativ über Herne gesprochen wird, mussten wir Umwege gehen. Wir sind dahin gegangen, wo uns die Menschen attraktiv finden. Das ist auch China: Diese Verbindung hat in kürzester Zeit Reaktionen der Wirtschaft ausgelöst. Herne kann nun erstmals von einer Entwicklung profitieren, die ohnehin nicht aufzuhalten ist. Chinesen investieren immer mehr in Deutschland. Sorge bereitet mir das übrigens nicht, weil ich die deutsche Wirtschaft für stark genug halte.
Zugleich kocht das Thema Menschenrechtsverletzungen in China immer wieder hoch. Zuletzt wurde bekannt, dass China Uiguren in großen Lagern „umerzieht“, und Hongkong ist ein Pulverfass. Gibt es eine „rote Linie“, bei der Sie die Partnerschaft ruhen lassen oder beenden würden?
Ja, selbstverständlich gibt es die. Wir haben deutlich gemacht, dass wir im September nicht nach China gefahren wären, wenn es einen blutigen Einmarsch in Hongkong gegeben hätte. Ich werbe aber auch dafür, Städtepartnerschaften nicht zu viel auf die Schulter zu legen. Ich fahre nicht als deutscher Außenminister nach China, sondern als Oberbürgermeister von Herne, der mit seinem Amtskollegen aus Luzhou in Gespräche eintritt.
Haben Sie Pläne für weitere Städtepartnerschaften? Sie haben ja auch schon mal die USA ins Spiel gebracht. . .
Wenn ich 2021 Oberbürgermeister wäre, würde ich für eine Partnerstadt in den USA werben. Viele der stärksten Arbeitgeber in Herne kommen aus Amerika, darunter UPS und Innospec. Wir wollen unsere Lage, unsere Logistikstruktur und unser weltumspannendes Netzwerk global nutzen. Amerika ist mehr als Burger King, McDonald’s und Trump. Da gibt es handfeste Strukturen, die uns verbinden. Die zu festigen, geht am besten, wenn man eine Partnerschaft eingeht, die Menschen zusammenbringt.
Haben Sie schon eine Partnerstadt in den USA im Sinn?
Ein Fernsehjournalist hat mir geraten, mich um Grand Rapids in Michigan zu bemühen. So wie der „Spiegel“ Herne dargestellt hat, so haben US-Medien Grand Rapids niedergeschrieben. Darauf hat die Stadt mit einem tollen Video reagiert, das es auf Youtube zu sehen gibt – und das ich nur empfehlen kann. Der Journalist hat recht: Grand Rapids, das wäre was. Im Ernst: Da müssen wir uns beraten lassen. Wir brauchen eine Stadt, die mit dem gleichen Geist ausgestattet ist wie wir: eine Partnerstadt, in der es also tendenziell eine Zeit lang abwärts ging, die dann aber die positive Wende geschafft hat – so wie Grand Rapids.
Thema Klimawandel: Aus der Opposition und aus Teilen der Bürgerschaft gibt es die Kritik, dass Herne viele Konzepte beschließt, aber in der Praxis zu wenig passiert. Was sagen Sie diesen Kritikern?
Schauen wir auf das Thema Stickstoffdioxide. Warum hat sich die Umwelthilfe nach den ersten Debatten um Dieselfahrverbote nicht auf Herne gestürzt? Weil alle davon ausgehen, dass wir durch unsere Aktivitäten sehr wohl die Werte nach unten gefahren haben. Das werden wir Anfang 2020 hoffentlich sehen, wenn die Ergebnisse der kontinuierlichen Messungen veröffentlicht werden. Meine Position lautet: Wir wollen Schadstoffe durch eine neue Mobilität vermeiden, vor allem durch neue Technologien und eine intelligente Vernetzung von Mobilitätsstrukturen. Das ist natürlich nicht so symbolträchtig, wie das Beispiel Hannover mit einem Tag kostenlosen Nahverkehr. Das hat 600.000 Euro gekostet, löst aber nicht das Klimaproblem. Wir haben Innovation City, da kümmern wir uns um langfristige Energie-Effizienz von Gebäuden. Mit all dem sind wir sehr erfolgreich.
Symbolträchtig ist die Idee für den Rückbau der Sodinger Straße und damit eine Beschneidung des Individualverkehrs. Müssen Herner Autofahrer befürchten, dass sie immer mehr an die Seite gedrängt werden?
Befürchten muss man in Herne grundsätzlich gar nichts. Man darf sich darauf freuen, dass die Luft in Herne besser wird. Es setzt sich die Einsicht durch, dass man am besten etwas für seine Gesundheit tut, wenn man zu Fuß geht oder das Rad nutzt. Der Bewusstseinswandel ist schon im Gange: Immer mehr Menschen nutzen Mikromobilität, etwa in Form des E-Scooters. Wir müssen neue Anreize schaffen, damit die neuen Mobilitätsformen genutzt werden. Dazu gehören auch neue Radwege, darunter „Protected Lanes“, also geschützte Radwege. Auch in diesem Kontext hat für mich die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Herne höchste Priorität. Je mehr unserer Bürger in Herne arbeiten können, umso stärker reduzieren wir die Luftverschmutzung durch Pendelverkehre in Nachbarstädte. Das ist im Erfolgsfall ein messbarer Beitrag zum Klimaschutz.
Schauen wir auf 2020: Was für Meilensteine erwarten Sie für das kommende Jahr?
Am 1. November endet die Amtszeit des Rates und des Oberbürgermeisters. Bis dahin arbeiten wir mit Vollgas weiter. Wir wollen die gute Vorarbeit nutzen, um auch 2020 wieder einige Aufsehen erregende Projekte auf den Weg zu bringen. So wollen wir pro Monat im nächsten Jahr mindestens zwei Ausrufezeichen setzen. Insgesamt heißen unsere Ziele: noch mehr Ausbildung, noch mehr neue Arbeitsplätze, noch besseres Wohnen, mehr Kitas, mehr Schulen, weniger Schadstoffe, mehr Bäume. Und vielleicht gibt es ja über eine Olympia-Bewerbung noch die Chance, etwas für unser Sportstätten-Angebot zu tun.
Können Sie zu den Ausrufezeichen schon Details nennen?
Nur so viel: Wir erwarten, dass wir in allen vier Stadtbezirken ein besonders strahlendes Projekt vorstellen können. Außerdem hoffen wir auf mindestens eine weitere Großansiedlung. Und wir werden erleben, dass an den Bahnhöfen etwas geschieht.