Herne. Mehr als 200 Herner wurden Opfer der NS-Euthanasiemorde. Der Herner Udo Jakat hat das dunkle Kapitel recherchiert. Die Ergebnisse erschüttern.
Der Herner Anton T. hatte nach seiner Ausbildung als Anstreicher sein Leben noch vor sich. Doch da geriet er in die Fänge der Nazis. Sie ließen ihn in die Psychiatrie einliefern. Er starb mit 26 Jahren in einer „Heil- und Pflegeanstalt“ bei München – man ließ ihn einfach verhungern. Der Sohn eines Schneiders ist eines von vielen Herner Opfern des Euthanasie-Programms der NS-Zeit, erläutert Udo Jakat. Bislang hat der pensionierte Lehrer Namen von 200 Herner Opfern ausfindig gemacht.
Die wahre Opferzahl liegt nach Einschätzung des 76-Jährigen wahrscheinlich deutlich höher, seine Nachforschungen gehen noch weiter. Das Mitglied der Geschichtswerkstatt des DGB hat es sich zur Aufgabe gestellt, in seiner Heimatstadt eines der dunklen Kapitel der Nazi-Herrschaft aufzuarbeiten. Menschen wurden als „asozial“ oder „arbeitsscheu“ abgestempelt, sagt er. Anton T. und die vielen anderen Herner galten demnach im Nazi-Jargon als „lebensunwertes Leben“, so wie Menschen mit Behinderungen.
Sohn des Pfarrers aus Herne wurde getötet
Theodora Peick war nach den Recherchen Tochter eines Bergmanns, kam offensichtlich nach der Schule auf dem Arbeitsmarkt nicht zurecht. Im November 1936 wurde sie in die Psychiatrie von Eickelborn eingeliefert und 1942 in einer Anstalt getötet. Im Fall des Bergmanns Josef Seidel weiß man heute, so Jakat, dass er ein Invalide war. Auch er kam nach Aplerbeck und wurde im November 1944 in einer Tötungsanstalt umgebracht. Ein weiteres erschütterndes Schicksal sei das des Michael Witsch. Er hatte angeblich Epilepsie, mit 32 Jahren wurde er ermordet. Die Nazis machten laut Jakat auch vor Pfarrersfamilien keinen Halt. Der evangelische Seelsorger Gustav Heinrich, der einst in der Kreuzkirchengemeinde wirkte, hatte einen behinderten Sohn. Dieser wurde in dem Jahr, in dem der Vater starb, von Aplerbeck nach Süddeutschland verlegt und im April 1944 getötet.
Karte mit den Leidenswegen der Opfer
Während Udo Jakat über das Grauen des NS-Terrors spricht, liegt auf seinem Schreibtisch eine auffällige Deutschlandkarte mit einer Fülle an roten Linien. Sie alle hat der frühere Lehrer an der Erich-Fried-Gesamtschule eingetragen, um den Weg der Opfer von Herne an den Ort ihrer Ermordung nachzuzeichnen. Nachdem die Menschen zunächst einige Zeit oder auch Jahre in Heimen der nahen Umgebung gelebt hätten, seien sie dann in die Anstalten wie die von Eglfing-Haar bei München, Hadamar in Hessen, Scheuern (Rheinland-Pfalz), Bernburg an der Saale oder Warta in Polen gebracht worden. „Dort wurden die Menschen vergast, zu Tode gespritzt oder auf sie wartete der Hungertod“.
Für die Einweisung in die Psychiatrie seien die Amtsärzte in Herne und Wanne zuständig gewesen, „die in engem Kontakt mit der Polizei, der Gestapo und den Gerichten standen“. Jeder der Mediziner habe gewusst, dass die Menschen, die in die so genannten Heil- und Pflegeanstalten kamen, „mit dem Tode bedroht waren“. Bei seinen Nachforschungen hat Jakat herausgefunden, dass einer der Amtsärzte auch noch einige Jahre nach Ende der NS-Herrschaft im Dienst war. Rechtlich sei keiner dieser Mediziner je zur Verantwortung gezogen worden.
Anders sehe es bei den Ärzten in den Tötungsanstalten aus. Da ergebe sich ein eher differenziertes Bild. Einigen Medizinern habe man den Prozess gemacht und sie zu Haftstrafen verurteilt, andere seien freigesprochen worden. Der Vollständigkeit halber müsse aber erwähnen, so Jakat, dass es gleich nach dem Krieg und vor Gründung der Bundesrepublik einen Prozess gegen Euthanasie-Ärzte gegeben habe. Damals seien auch Todesurteile vollstreckt worden.
Leidenswege waren nur mit großer Mühe zurückzuverfolgen
Bei seinen Angaben beruft sich Udo Jakat auf umfangreiche Untersuchungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. „Denn der LWL ist die Nachfolgeorganisation des Westfälischen Provinzialverbandes, der die staatlichen Einrichtungen für behinderte Menschen während der Nazi-Zeit betrieb“. Die Hürden, die der Verband bei seinen Recherchen überwunden musste, belegten, wie sehr die Nazis alles darangesetzt hätten, ihr mörderisches Vorgehen zu verschleiern. So sei es dem Verband nur mit sehr vielen Mühen gelungen, die Leidenswege der Opfer zurückzuverfolgen. Die jeweiligen Familien hätten mitunter erst Wochen später die Nachricht vom Tod des Angehörigen erhalten. Als Todesursache seien Krankheiten wie Tuberkulose oder Lungenentzündung angegeben worden. Zudem hieß es, dass der Leichnam bereits beigesetzt oder verbrannt sei.
Seine umfangreichen Ergebnisse hat Udo Jakat inzwischen auch einer Vielzahl von Angehörigen vorgestellt. In den Gesprächen stieß er aber häufiger auf eine Mauer des Schweigens, „als wolle man das Schicksal vergessen machen“. Es gebe auch Familien, die keinesfalls eine öffentliche Namensnennung zuließen. Das Argument: Man wisse nicht, was der Angehörige wirklich getan habe. Solche Reaktionen rufen bei dem Herner Kopfschütteln hervor. Er möchte die Erinnerung an die Opfer wachhalten.