Herne. Aus Angst verließ sie Lina Atfah ihre syrische Heimat. Nun lebt die erfolgreiche Autorin in Wanne und sagt, was sie an dem neuen Zuhause schätzt.

Bei der Leipziger Buchmesse im Frühjahr hatte sie gleich sechs Auftritte. War sie vorher schon zu zahlreichen Lesungen aus ihren Texten eingeladen, ist Lina Atfah seither ständig auf Tour. Die Schriftstellerin reist kreuz und quer durch die Republik - und hat in Wanne-Eickel eine Wahlheimat gefunden.

Sie stammt aus Syrien, genauer gesagt aus der Stadt Salamiya. Dort ist sie aufgewachsen und erlebte mit 16 Jahren, mit welcher Härte ein Regime ein junges Mädchen drangsalieren kann. Bei einer Literaturveranstaltung hatte sie Gelegenheit, selbst verfasste Verse vorzutragen, in denen sie Kritik anklingen ließ, fast noch mehr an der Religion als an der Politik. Die heute 30-Jährige geht davon aus, dass Spitzel im Saal saßen, es folgte ein sechsstündiges Verhör beim Geheimdienst. In der Schule stand sie seither unter ständiger Beobachtung. Häufig bekam sie zu hören, sie solle an ihre Familie denken. Solche Warnungen gab es auch, als sie auf schon fast abenteuerliche Weise über den Libanon ihr Heimatland Syrien verließ.

Arbeiten für ein neues Buch

Derzeit arbeitet Lina Atfah an dem Buch „Die vorletzte Sitzung mit Frau Everding“, bei dem sie von der IKF im Ruhrgebiet unterstützt wird, der „Individuellen Künstlerinnen- und Künstlerförderung“.

An der Übersetzung ihrer Texte wirkt ihr Mann mit, allerdings sind bei den bisherigen Veröffentlichungen auch weitere Übersetzer tätig gewesen.

In Syrien hat sie, auch wenn ein Auftrittsverbot galt, für Zeitungen und Kulturmagazine geschrieben.

Mit der Literatur von Lina Atfah haben sich schon zahlreiche Medien befasst, darunter das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, die Wochenzeitung Die Zeit, die FAZ und mehrere Rundfunksender. Der Spiegel titelte: „Ein Gedicht für Wanne-Eickel“. In einem ihrer Texte beschreibt die Autorin, wie es einem Flüchtling ergeht, der ein Navi in der Stadt benutzt.

Flucht des Bruders dauerte ein Jahr

Lina Atfah hatte sich als Studentin der arabischen Literaturwissenschaften nicht nur an den Protesten gegen das Assad-Regime beteiligt, sondern sie auch mitorganisiert. Als sie spürte, dass die Lage für sie immer heikler wurde, sei ihr keine andere Wahl als die des Abschieds geblieben, erzählt sie. Die Sorge um ihre nächsten Angehörigen wurde für sie zum ständigen Begleiter. Inzwischen, nach nunmehr fünf Jahren, leben Eltern und Geschwister ebenfalls in Deutschland. Die Flucht ihres Bruders habe fast ein Jahr gedauert, vollkommen erschöpft habe er eines Tages an ihrer Haustür gestanden. Dass sie nun in Wanne-Eickel lebt, ist schon ein wenig dem Zufall geschuldet. Ihr Mann, ebenfalls aus Syrien geflüchtet, begann 2014 sein Physikstudium in Bochum und fand aber dort keine Bleibe, stattdessen aber eine im Zentrum von Wanne.

Lina Atfah verarbeitet mit ihren Texten Erlebnisse ihrer syrischen Heimat.
Lina Atfah verarbeitet mit ihren Texten Erlebnisse ihrer syrischen Heimat. © Bastian Haumann

Schreibtalent liegt in der Familie

Sie habe sich von Anfang hier wohlgefühlt, betont die Autorin und irgendwie weise die Stadt Ähnlichkeiten mit Salamiya auf. Die Zeit von damals komme ihr oftmals in den Sinn, aber auch Bilder aus ihrem Studium und Geschichten, die man sich in der Familie erzählt. Aus ihren Gedanken werden Texte, meist lyrischer Art, aber nicht unbedingt. Dabei verändere sie kaum noch etwas, wenn es einmal niedergeschrieben sei. Ihr Mann Osman Yousufi nickt bestätigend. Meist brauche auch seine Frau nicht lange, bis sie ein Gedicht oder eine Geschichte verfasst habe. Ihr schriftstellerisches Talent ist ihr wohl mit in die Wiege gelegt worden. Ihr Großonkel leitete einst ein Kulturzentrum, ihre Uroma schrieb ebenso gern mit großer Leidenschaft.

Kontakte zu Schreibprojekten

Hier in Deutschland gelang es Lina Atfah Kontakte zu dem Projekt „Weiterschreiben“ aufzubauen, an dem Autorinnen und Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten mitwirken. Auf der gleichnamigen Webseite und im Magazin der Initiative veröffentlichen sie eigene Texte, wozu auch die gebürtige Syrierin Gelegenheit hatte. 2015 gelang es ihr, erstmals wieder seit ihrer Jugendzeit bei einer Veranstaltung in Köln öffentlich aus ihren Arbeiten zu lesen, 2017 erhielt sie den Kleinen Hertha Koenig Preis, 2018 folgten Gedichte in der Sammlung „Deine Angst - dein Paradies“. Als in diesem Jahr „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ erschien, bescheinigten ihr Kritiker, dass ihre Worte zu Verfolgung und Flucht nachhaltig beeindrucken.

Die Freiheit genießen

Doch es sind nicht nur die Erinnerungen, die Lina Atfah in ihren Texten verarbeitet, ebenso deutlich möchte sie auch von der Freiheit sprechen, die sie hierzulande genießen könne, wie sie sagt. Als Beispiel nennt sie einen selbst verfassten Internet-Beitrag, in dem sie sich kritisch mit Innenminister Horst Seehofer auseinandersetzt. Sicherlich habe sie auch negative Kommentare erhalten, aber sie brauche keine Angst zu haben, wenn sie ihre Meinung äußere.