Herne. Der „Spiegel“ hat zum Mauerfall vor 30 Jahren ein Extraheft veröffentlicht. Auch Herne ist Bestandteil. Die Reportage löst Verwunderung aus.

Der Fall der Mauer jährt sich am 9. November zum 30. Mal. Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat aus diesem Anlass ein Extraheft zum deutsch-deutschen Stand der Dinge produziert. Unter der Überschrift „Der Osten im Westen“ war ein Spiegel-Redakteur in Herne unterwegs. Das Ergebnis sorgt bei jenen, mit denen er gesprochen hat, für Verwunderung. Eine Betrachtung.

Stimmen Berichterstattung und Realität nicht so richtig überein, ist man gerade beim „Spiegel“ geneigt, die Relotius-Keule zu schwingen. Wer diesen Namen nicht kennt: Claas Relotius hat für das Magazin vielfach ausgezeichnete Reportagen geschrieben - die sich im Nachhinein als größtenteils erfunden entpuppten. Bei Lukas Eberle, so heißt der Redakteur, der Herne besucht hat, könnte man es als Fall von selektiver Wahrnehmung bezeichnen.

Viele Gesprächspartner finden gar keine Erwähnung

Oberbürgermeister Frank Dudda drückt es im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion diplomatisch aus. „Da war das Klischee wohl stärker als die Realität.“ Einen ganzen Tag lang habe er dem Gast die Entwicklung in Herne erläutert. In der Reportage findet sich davon so gut wie nichts. Man hat vielmehr den Eindruck, dass bestimmte Dinge ignoriert worden sind, um das Grau-in-Grau, mit dem Herne gezeichnet wird (das scheint von Anfang an das Ziel gewesen zu sein), nicht aufhellen zu müssen. So erzählt Dudda, dass er dem Redakteur von den zahlreichen Wohnprojekten erzählt habe, die stark nachgefragt seien. Das macht der Spiegel daraus: „Wer sich noch zur Mittelschicht zählen kann, wer noch Arbeit hat und genug verdient, zieht lieber weg.“

Auch den Wohnblock an der Emscherstraße hat der Reporter des Spiegel besucht, um das vermeintliche Siechtum Hernes darzustellen.
Auch den Wohnblock an der Emscherstraße hat der Reporter des Spiegel besucht, um das vermeintliche Siechtum Hernes darzustellen. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Im Grunde genommen darf der OB sich glücklich schätzen, dass er überhaupt Erwähnung gefunden hat. Andere Gesprächspartner finden gar nicht statt. Nun ist es im Journalismus durchaus üblich, zahlreiche Stimmen zu sammeln, um hinterher auswählen zu können. Doch spricht man mit jenen, die Kontakt zu Eberle hatten, stellt sich der Verdacht ein, dass nur „Belastungszeugen“ für das vermeintliche Siechtum Hernes gehört werden.

„Man könnte glauben, der hätte nie einen Fuß in die Stadt gesetzt“

Einer der Nicht-Erwähnten ist Henrich Kleyboldt, Unternehmer und Vize-Präsident der IHK. Er habe ein buntes und umfassendes Bild über Herne gezeichnet und hervorgehoben, dass Herne sein Schicksal selbst in die Hand nehme, doch sein Eindruck finde sich keinesfalls in der Berichterstattung wieder.

Auch mit der Bürgerinitiative Stadtwald hat sich der Spiegel-Redakteur getroffen. An einem schönen und sonnigen Tag am Böckenbusch - quasi mitten im Grünen. Die BI-Mitglieder hatten jedoch den Eindruck, dass er an ihrem eigentlichen Anliegen gar keine Interesse hatte. Vielmehr habe er gefragt, wie denn die BI gegen die Langzeitarbeitslosigkeit in Herne vorgehe. Auch die Bürgerinitiative findet sich in der Berichterstattung nicht wieder. Über das Ergebnis waren die BI-Mitglieder, die am Gespräch teilgenommen hatten, verwundert bis erschüttert. „Wenn man nicht wüsste, dass sich der Reporter eine Woche in Herne umgeschaut hat, könnte man glauben, dass er nie einen Fuß in die Stadt gesetzt hat.“

Besuch in der Schuldnerberatung, im Jobcenter und an der Emscherstraße

Selbstverständlich ist unbestritten, dass Herne nach wie vor mit Problemen zu kämpfen hat, doch die Reportage erweckt den Eindruck, als ob Herne eine Steinwüste ist, in der in erster Linie Schuldner und Hartz-IV-Empfänger leben, denn die Besuche bei der Schuldnerberatung und vor dem Jobcenter sind prominent vertreten. Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die zum Zeitpunkt des Besuchs Anfang August schon klar erkennbar war, wird ausgespart.

Imageproblem ist nicht neu

Die öffentliche Wahrnehmung bereitet Herne längst nicht zum ersten Mal Probleme. 2017 hatte der OB auch alle Hände voll zu tun, das Image der Stadt gerade zu rücken.

Ursache: Die Regierung hatte in der Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion mitgeteilt, dass in fünf deutschen Städten stark unterdurchschnittliche Lebensverhältnisse herrschen und diese Kommunen zu den abgehängten Regionen gehören. Darunter auch Herne.

Und um den Begriff Plattenbau aus der Überschrift im Text wider zu spiegeln, hat Eberle an der Emscherstraße vorbeigeschaut und den Zustand dort detailliert beschrieben. Auch das Hauptbild ist dort entstanden. Als ob dies charakteristisch für Herne ist. Mit minimaler Recherche - dem Spiegel wird ja Recherchefähigkeit nachgesagt - hätte man erkannt, dass ein zweifelhaftes Unternehmen für die unhaltbaren Zustände verantwortlich ist.

„Ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich tagtäglich für die Stadt engagieren“

Daneben behauptet Eberle Dinge, die schlicht falsch sind. „Nach und nach verschwinden die Einzelhändler aus der Stadt, was sie weniger lebenswert macht.“ Keine Rede davon, dass es auch eine Reihe von Neueröffnungen gab. Beinahe amüsant ist es, wenn Eberle die Loren, die angeblich an vielen Ecken stehen, als Indiz dafür herhält, „wie sehr der Ort noch mit der Vergangenheit verhaftet ist“. Ebenso aufhorchen lässt der Satz: „Wer in Herne etwas werden will, ob im Vorstand des Kegelvereins oder in einer Partei, sollte seine Reden mit ,Glückauf!’ beenden.“

Auch CDU-Chef Timon Radicke war einen ganzen Tag mit Eberle unterwegs, er habe ihm Teutoburgia, die Akademie Mont-Cenis oder den Shamrockpark gezeigt. Er wird mit keiner Zeile erwähnt. Nach der Lektüre ist Radicke sehr verärgert: „Dass das dabei herausgekommen ist, ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich tagtäglich für die Stadt engagieren.“