Hernes CDU-Parteichef im Interview: über den Zustand der Union im Bund und vor Ort, die Kommunalwahlen 2020 und seine Ambitionen in der Partei.
Der Absturz der CDU bei der Europawahl, die Auseinandersetzung mit Youtubern, die anstehende Kommunalwahl, die persönliche Zukunft - zu diesen und weiteren Themen sprach Hernes CDU-Chef Timon Radicke (33) mit den WAZ-Redakteuren Lars-Oliver Christoph und Michael Muscheid.
Eigentlich müssten Sie der SPD dankbar sein?
Timon Radicke: Warum?
Der Absturz der SPD überdeckt die großen Probleme innerhalb der CDU.
Die Medien und die Öffentlichkeit mögen Personaldiskussionen. Damit kann die CDU aber nicht dienen, deshalb ist die SPD derzeit interessanter, auch durch den fulminanten Abgang von Andrea Nahles.
Die CDU sorgt derzeit aber auch für Negativschlagzeilen – zuletzt durch das Europawahlergebnis.
Ich bin kein Mensch, der etwas beschönigt und sich nach so einem Wahlergebnis sagt: Wir haben unser Wahlziel erreicht. Klar ist: Dieses Wahlergebnis kann nicht unser Anspruch als Volkspartei sein. Die Grünen, der große Wahlgewinner, haben aber nur ein Thema – und das ist der Klimawandel. Es wird kein Wort darüber verloren, wie das in einem Industriestandort finanziert werden kann und wie der Wohlstand gehalten werden soll. Klimaschutz muss mit Außenmaß geschehen.
Trotzdem treffen die Grünen hier offenbar einen Nerv. Bei der Europawahl sind die Grünen bei den Wählern unter 60 Jahren die mit Abstand stärkste Partei.
Lehrer am Berufskolleg
Timon Radicke ist gebürtiger Herner. Er besuchte die katholische Grundschule an der Bergstraße sowie das Haranni-Gymnasium, nach dem Wehrdienst studierte er Deutsch und Englisch an der Ruhr-Uni. Er ist Lehrer am Mulvany-Berufskolleg.
In die Junge Union trat er 2003 ein, in die CDU 2005, von 2010 bis 2017 war er Vorsitzender im Stadtbezirk Herne-Mitte, von 2014 bis 2016 Vorsitzender im Ortsverband Herne-Zentrum, 2010 bis 2017 erst Schriftführer der Europaabgeordneten Renate Sommer, dann stellvertretender Vorsitzender des CDU-Kreisverbands.
Natürlich haben wir das Thema in den vergangenen Jahren stiefmütterlich behandelt. Und da muss man auch mit der Bundesregierung hart ins Gericht gehen. Ich weiß noch genau, wie der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen und Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 beim Landesparteitag der CDU auf die Bühne gegangen sind und wenige Tage nach dem Reaktorunglück von Fukushima den Atomausstieg verkündet haben. Damals hat die CDU gedacht: Wow, wir sind Vorreiter und machen den anderen jetzt vor, wie es geht. Damals haben alle gesagt: Jetzt haben die Grünen ein richtiges Problem. In den vergangenen Jahren ist Umweltpolitik in der CDU auf Bundesebene aber verschlafen worden.
Was muss die CDU nun tun?
Wir müssen den Menschen und insbesondere jungen Leuten näher bringen, dass wir pragmatische Lösungen zu diesem Thema anbieten. Es ist ja nicht so, dass der Umweltschutz in der CDU nie eine Rolle gespielt hat. Es darf aber unter keinen Umständen so aussehen, dass wir als Volkspartei den Eindruck erwecken, dass wir uns nach dem Winde drehen, um Wähler zu gewinnen.
Sie haben 2017 vor Ihrer ersten Wahl zum CDU-Chef erklärt: Die CDU ist auch die Autofahrerpartei. Würden Sie das auch heute so sagen?
Ja. Partei der Autofahrer – das klingt so, als wenn wir alle anderen Verkehrsteilnehmer ausgrenzen wollen. Das ist aber so nicht zu verstehen. Wir erkennen zunächst mal an, dass ein großer Teil unseres Bruttoinlandproduktes von ganz normalen Menschen erwirtschaftet wird, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind. Es gibt in der Klimadebatte zwei Möglichkeiten. Wir verbannen Autos aus den Innenstädten und öffnen damit einer schleichenden Deindustrialisierung Tür und Tor – das ist die eine Möglichkeit. Die zweite Möglichkeit: Wir machen es mit Außenmaß. Das heißt, dass wir Autofahrer, Fußgänger, Radfahrer und Nutzer von Bus und Bahn als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer betrachten.
Das Problem in Herne ist doch aber, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs mit 60 Prozent höher ist als in anderen Städten. Kann man nur etwas ändern, wenn man dem Autofahrer etwas wegnimmt?
Die Frage ist doch: Nehmen wir den Menschen etwas weg oder bringen wir sie dazu, vernünftige Entscheidungen für ihr Leben zu treffen?
Sie haben anfangs erklärt, dass die CDU anders als die SPD nicht mit Personalquerelen dienen kann. Hat Ihre Partei derzeit gar kein Führungsproblem?
Der Vorteil der CDU war und ist: Wir sind sehr leidensfähig, auch was Beschlüsse und Entschlüsse unserer Parteivorsitzenden angeht. Wir wählen sie für eine gewisse Zeit und wir gestehen ihnen zu, Fehler zu machen. Das machen andere Parteien nicht. Ich glaube, dass Annegret Kramp-Karrenbauer in den vergangenen Monaten einen sehr schwierigen Job hatte. Sie hatte nach ihrer knappen Wahl zur Parteivorsitzenden alle Hände voll damit zu tun, die Flügel der Partei wieder zusammenzuführen. Der kritisierte Karnevalswitz und andere Aussagen waren Versuche der Parteivorsitzenden zu signalisieren, dass konservative Kräfte in der CDU ein Zuhause haben.
Mit Witzen über Minderheiten wie intersexuelle Menschen signalisiert man konservativen Kräften, dass sie in der CDU eine Heimat haben?
Ich will nicht über Karneval diskutieren und zitiere stattdessen den Comedian Serdar Somuncu, der sagt: Jede Minderheit hat ein Recht auf Diskriminierung. Ich bin rothaarig – machen Sie gerne Witze darüber.
Noch mal: Hat die CDU ein Führungsproblem?
Wir haben jetzt Juni, die Frau ist seit Dezember im Amt. Jetzt gilt es, die Sacharbeit nach vorne zu bringen. Wir brauchen jetzt eine klare Fokussierung auf den ursprünglichen Kompetenzkern der CDU, und der liegt auch in der Wirtschaftspolitik.
Hat AKK es denn geschafft, die Partei nach ihrer Wahl zu befrieden?
Zunehmend ja – bis zur Europawahl. Ihre Statements nach der Wahl konnten viele nicht nachvollziehen. Das gilt auch für mich.
Warum?
Wir können im Jahr 2019 nicht mehr suggerieren, dass wir bei Verlusten von sieben Prozent Wahlziele erreichen. Das glaubt uns kein Mensch mehr. Diese Politikerphrasen kann keiner mehr hören, auch die Basis nicht. Ich versuche, als Parteivorsitzender in Herne eine klare Sprache zu sprechen. Und ich habe den Eindruck, dass Bürger und auch Mitglieder das goutieren. Wir brauchen auch von der Bundespartei eine klare Ansage, in welche Richtung es jetzt gehen soll.
Wäre Annegret Kramp-Karrenbauer die richtige Kanzlerkandidatin?
Ich weiß es nicht. Ich bin froh, dass ich momentan diese Entscheidung nicht treffen muss. Ich kann mir auch Jens Spahn und Friedrich Merz als Kanzlerkandidaten vorstellen. Alle drei wären in der Lage, Mehrheiten zu organisieren.
Wer ist eigentlich Schuld an dem Desaster beim Umgang mit dem Youtuber Rezo? AKK oder Generalsekretär Paul Ziemiak?
Ich glaube, dass wir mit Schuldzuweisungen an dieser Stelle nicht weiter kommen. Die CDU hat nicht zuletzt durch ihre Altersstruktur ein Problem beim Umgang mit Neuen Medien – das gilt auch in Herne. Wir haben allgemein großen Nachholbedarf. Wir haben zwar gute Leute, sind in diesem Fall aber völlig überrumpelt worden.
Sie sind ja persönlich in den sozialen Medien sehr aktiv. Wie ist die Resonanz?
Der Podcast kommt extrem gut an, wir haben regelmäßig etwa 1500 Hörer. In der nächsten Wochen nehmen wir übrigens eine Sendung mit Oberbürgermeister Frank Dudda auf. Bei meiner „Aktuellen Stunde Kommunalpolitik“, in der ich regelmäßig etwa zwei Minuten lang aktuelle Themen anspreche und dazu eine CDU-Position formuliere, habe ich nur auf Facebook jeweils rund 2500 Klicks. Das funktioniert also. Und wir reden hier von 25- bis 45-Jährigen, also von einer Altersgruppe, in die wir als Volkspartei reinwollen.
Aber die Sie nicht wählen.
Das versuche ich dadurch ja zu ändern. Das kann ich als Kreisvorsitzender aber auch nur machen, weil ich neben meiner Arbeit als Lehrer 25 Wochenstunden in diese Kreispartei reinballere. Es gibt sicherlich auch mal Tage, an denen ich mich frage: Wofür mache ich das eigentlich alles? Aber dann gibt es ein Feedback – zum Beispiel in der Fußgängerzone. Und das freut einen dann.
Wie kommt die Bundes-CDU nach dem Rezo-Video und dem Shitstorm aus dieser misslichen Lage wieder heraus?
Wir müssen inhaltlich arbeiten. Wenn die CDU nun Druck macht, gemeinsam mit der SPD in der Großen Koalition und vernünftige Gesetze verabschiedet, die die Menschen weiterbringen und die sie in ihrem Umfeld oder in ihrem Portemonnaie spüren, dann fällt die Resonanz auf ein Video eines Youtubers kleiner aus. Nichtsdestotrotz müssen wir natürlich unsere Experten zurate ziehen und neue Internet-Formate aufsetzen.
Was sagen Sie zu den bestehenden?
Man muss sich nur mal CDU TV auf Youtube anschauen. Das ist in etwa so spannend wie. . . (überlegt)
. . . die Weihnachtsansprachen von Oberbürgermeister Frank Dudda?
Sagen wir: Wie seine erste Weihnachtsansprache (lacht). Im Ernst: Wie wäre es mal mit einer aktuellen Stunde von Annegret Kramp-Karrenbauer zur Bundespolitik im Internet, aufgezeichnet an ihrem Schreibtisch im Konrad-Adenauer-Haus? Mal ganz locker? Die alten Formate funktionieren einfach nicht mehr.
Wird Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Belastung für Ihre Partei oder ist sie die einzige Konstante in schwierigen Zeiten?
Lassen Sie mich so antworten: Ich habe Merkels Harvard-Rede gehört – und die war überragend. Die Frage ist: Warum hält sie solche Reden nicht in der Innenpolitik? Gäbe es ein Referendum, um die Zeit der Bundestagsabgeordneten auf drei Wahlperioden zu beschränken, dann würde ich dafür stimmen. Abgeordnete, Minister und Bundesregierung leben durch den Wandel, und den gibt es mir zu wenig.
Apropos Wandel. Nun droht das Ende der Großen Koalition. Fürchten Sie sich davor?
Ich habe da zwei Sichtweisen. Drei Große Koalitionen in 16 Jahren tun dem Land nicht gut. Da verschwimmen die Grenzen, die Menschen wissen nicht mehr, wofür die Parteien stehen. Das ist auch ein Grund dafür, warum es den Volksparteien so geht, wie es ihnen jetzt geht. Aber: Ich fände ich es schade, wenn es zu Neuwahlen käme: Die Regierung sollte ihre Zeit haben, um vernünftige Gesetze zu verabschieden. Und ich gebe zu: Nach der Europa- und vor der Kommunalwahl fehlen mir Lust und Energie, jetzt noch eine Bundestagswahl zu organisieren.
Kommen wir zur CDU vor Ort: Wie ist da die Lage – wenn sie schon im Bund nicht so gut ist?
Die Lage ist besser als im Bund – das muss ich als Vorsitzender ja auch so sagen (lacht). Zunächst einmal sammeln wir gerade viele Erfahrungen, weil wir erstmals seit langem Fraktions- und Parteispitze voneinander abgekoppelt haben. Da herrschen ganz unterschiedliche Führungsstile. Das ist gewinnbringend. Die Rats-Kooperation läuft geräuschlos, vertrauensvoll und produktiv. Und für die Partei, für die ich ja spreche, stelle ich fest: Es geht uns sehr gut. Wir wollen aber noch eckiger und kantiger werden.
Weil sie vor Ort in der Rats-Koalition mit der großen SPD thematisch etwas untergehen?
Das sehe ich nicht so. In Herne läuft es gut, und wir haben einen guten Anteil daran. Aber wir müssen zusehen, dass wir den Bürgern bei der Kommunalwahl 2020 unterschiedliche politische Angebote machen.
Mit welchen Schwerpunkten wollen Sie in den Kommunalwahlkampf ziehen? Umwelt ist jetzt bestimmt auch dabei?
Wir arbeiten gerade am kommunalpolitischen Programm. Da geht es etwa um Digitalisierung, weil sie unser ganzes Leben, auch das in der Kommune, komplett verändern wird; da stehen wir noch ganz am Anfang. Hinzu kommen auch die Themen Finanzen, Bildung und, ja, Umwelt. Das Programm erhält dann auch ein Branding, eine Marke.
Wird es im neuen Rat einen Generationenwechsel bei der Union geben?
Ja. Wir haben hervorragende junge Leute in der CDU. Und es ist bei uns nicht so, dass die Alten auf ihren Stühlen kleben und die Jungen wegbeißen. Es gibt etablierte Stadtverordnete, die mir signalisiert haben, dass sie bereit sind aufzuhören. An der einen oder anderen Stelle werden aber auch Ratsvertreter in den sauren Apfel beißen und Platz machen müssen. Ich habe auch schon mit allen Stadtverordneten Gespräche geführt. Bewerben kann sich natürlich jeder, so ist das demokratische Verfahren.
Und was ist mit Ihnen? Bewerben Sie sich auch um einen Sitz im Rat oder sehen Sie Ihre Zukunft im Land- oder Bundestag?
Ich sag es mal so: Ich heirate nächste Woche standesamtlich, übernächste Woche kirchlich, ich habe vor, eine Familie zu gründen und übernehme mein Elternhaus in Herne-Süd. Alle Grundsteine sind also gelegt, dass ich in Herne bleibe.
Alles Gute für die anstehende Hochzeit! Das heißt: keine Kandidatur für den Land- und den Bundestag, aber für den Rat?
Ja. Mir macht es Spaß zu sehen, dass man vor Ort Dinge verändern kann. Das motiviert mich, in dieser Stadt Politik zu machen.
Bitte ergänzen. . .
Als künftigen SPD-Bundesvorsitzenden wünsche ich mir . . .
. . . Alexander Vogt.
Als Oberbürgermeister-Kandidat 2020 tritt für die CDU in Herne. . .
. . . ein hoffentlich geeigneter, ambitionierter und mit Parteirückhalt gewählter Kandidat.
Meine jüngste Aussage, dass es in Herne seit vielen Jahrzehnten roten Filz gibt, würde ich. . .
. . . durch das Wort „teilweise“ relativieren.
Borussia Dortmund wird in der neuen Saison. . .
. . . Champions-League-Gewinner.