herne. . Renate Sommer (CDU) tritt bei der Europawahl nicht mehr an. Im Interview zieht sie Bilanz und spricht über ihre Bilanz, den Brexit und mehr.
Die Europawahl rückt näher und damit der Abschied von Renate Sommer (CDU) aus Brüssel und Straßburg. 20 Jahre lang hat die Hernerin dem EU-Parlament angehört. Die WAZ-Redakteure Gabriele Heimeier und Lars-Oliver Christoph sprachen mit ihr über ihre Erfahrungen mit der EU, über Rechtspopulismus, den Brexit, Oldtimer und ihre Pläne für die Zukunft.
Frau Sommer, warum haben Sie sich entschieden, 1999 für das Europa-Parlament zu kandidieren? War, salopp formuliert, damals kein anderes Mandat frei, der Bundestag durch Ingrid Fischbach besetzt?
Renate Sommer: Ich hatte nie Ambitionen Richtung Bundestag. Und das EU-Parlament, das war so unrealistisch, da kommen nicht viele Abgeordnete hin. Der damalige Herner CDU-Vorsitzende Friedhelm Müller hatte mich zur Kandidatur vorgeschlagen, allerdings ohne mich zu fragen. Ich habe erst abgelehnt, denn unsere Tochter war noch so klein. Dann aber ging der Telefonterror los, ich sollte unbedingt antreten. Mein Mann hat schließlich gesagt: Mach’ es. Und die CDU hat so viele Mandate geholt, dass ich tatsächlich gewählt war. Aber es war für mich und meine Familie schon ein heftiger Umbruch.
Würden Sie, mit Ihrem Kenntnisstand von heute, noch einmal so entscheiden?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt keinen interessanteren Arbeitsplatz. Ich kann als einzelne Abgeordnete unheimlich viel bewegen, man schreibt Gesetze inhaltlich mit. Für den CDU-Bezirk Ruhr habe ich meine Aufgabe auch darin gesehen, dafür zu sorgen, dass wegen der EU-Gesetzgebung keine Unternehmen schließen müssen. Die EU-Beamten haben da oft wenig Praxiserfahrung.
Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Tag?
Am Tag nach der Wahl ging es erst nach Berlin, zum Kennenlernen, dann nach Brüssel, wo sich innerhalb der ersten vier, fünf Wochen das Parlament neu aufstellt mit seinen Fraktionen, den nationalen Delegationen, den Ausschüssen und so weiter. Da ist man schon sehr beschäftigt. Das Parlamentsgebäude war für mich damals sehr beeindruckend.
Hat es Phasen gegeben, in denen Sie dachten: nie wieder?
Nein, gab es nicht. Es gab höchstens mal Zeiten, in denen ich dachte: Jetzt eine Woche zuhause bleiben und Ordnung in den Garten bringen, wäre auch schön. Wir haben nämlich doppelt so viele Sitzungswochen wie der Bundestag.
Was fasziniert Sie an Europa?
Dass die Fäden nahezu immer zusammengehen, obwohl so viele nationale Interessen da sind. Am Ende gibt es dann doch einen Kompromiss, das klappt bei 99 Prozent der Gesetzgebung, auch wenn nicht immer eins zu eins dabei herauskommt, was man sich selber wünscht.
Und gibt es etwas, was Sie an Europa verzweifeln lässt?
Ja, wenn zum Beispiel Kollegen im Umweltausschuss Naturgesetze in Frage stellen, macht mich das verrückt. Ich bin Naturwissenschaftlerin. Oder wenn Grenzwerte gefordert werden, die überhaupt nicht mehr messbar sind. Oder wenn jemand etwas unbedingt durchboxen will, ohne irgendeine Ahnung von der Praxis zu haben.
Was würden Sie sofort ändern wollen?
Ich würde sofort ein Transparenzverzeichnis bei der EU-Kommission einführen. Man merkt manchem Gesetzentwurf an, dass die Lobby an der Quelle gut gearbeitet hat ...
Sie sprechen von Lobbyisten.
Wobei Lobbyismus nicht per se schlecht ist.Wir brauchen Beratung von außerhalb, um realitätsbezogen arbeiten zu können. Allerdings muss man da unterscheiden zwischen Krokodilstränen und berechtigten Einwänden. Ich selbst habe bei großen Dossiers immer auf meiner Homepage aufgelistet, mit wem ich gesprochen und Kontakt hatte. Ich habe nichts zu verbergen.
Ihnen ist vorgeworfen worden, Lobbyistin der Tabakindustrie zu sein.
Ja, und für die Lebensmittelindustrie und was weiß ich alles.. Aber das ist Unsinn: Ich bin Überzeugungstäterin mit reichlich Fachwissen.
Ein konkreter Vorwurf lautete, dass Sie dazu beigetragen zu haben, dass es in Deutschland anders als in anderen EU-Ländern kein Außenwerbeverbot für Zigaretten gibt.
Das ist falsch. Ich war gegen eine graue Einheitsverpackung für Zigaretten ohne Markenlogo, weil dies gegen geltendes Recht verstoßen hätte. Außenwerbung ist eine nationale Entscheidung. Die europäische Ebene ist da außen vor. Das müsste der Bundestag beschließen.
Sind Sie denn für oder gegen ein Außenwerbeverbot?
Bei Tabakerzeugnissen bin ich für ein Verbot. Es gibt jetzt aber einen neuen Streit wegen der E-Zigaretten, die ich eher als Ausstiegsprodukt für Raucher sehe. Da bin ich noch unentschieden. Jedenfalls darf sich die Werbung nicht an Minderjährige richten.
Haben Sie Verständnis dafür, dass schon seit Jahren die Beteiligung an EU-Wahlen so gering ist und dass viele sehr geringschätzig über die EU denken, dass sie sogar austreten wollen?
Viele Menschen wissen immer noch zu wenig über die EU. Da gibt es noch viel zu tun. Wenn die Brexit-Debatte eine gute Seite hatte, dann die, dass viele jetzt mehr wissen. Da wurde deutlich, dass Alltägliches, wie die Lebensmittel- und Medikamentenversorgung, ein freier Luftraum oder auch die Energiesicherheit stark mit der EU zusammenhängen. Ohne sie klappt es nicht wirklich.
Welche Fehler sind im Hinblick auf den Brexit in der EU passiert, dass es so weit kommen konnte?
Es sind auf beiden Seiten Fehler passiert. Der eigentlich Schuldige ist David Cameron, weil er seine Wiederwahl mit dem Referendum verband. Die Briten haben sich immer in einer Sonderrolle gesehen; sie haben eine historisch bedingte Distanz zum Kontinent und nur den Vorteil des Binnenmarktes gesehen, nicht die Wertegemeinschaft. Und die EU hat die Briten machen lassen. Der Brexit ist bitter und traurig. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Briten eines Tages wieder eintreten.
Wenn Sie in Herne gefragt werden, warum man am 26. Mai wählen gehen soll, was sagen Sie?
Wenn wir leben wollen wie bisher, in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand – auch Sozialhilfe, die es längst nicht überall gibt, sichert das Leben –, müssen wir europafreundliche Parteien wählen. Angesichts der immer schneller voranschreitenden Globalisierung wäre auch unser wirtschaftlich starkes Deutschland ohne die EU kaum überlebensfähig. Wie leben vom Export und profitieren vor allem vom Binnenmarkt. Wir haben einen Außenschutz und europäische Freihandelsabkommen, mit denen wir unsere hohen Standards in die Welt tragen. Und durch den stabilen Euro gibt es keine Wechselkursschwankungen oder Umtauschgebühren, was Arbeitsplätze sichert. Ich bin auch für eine Verteidigungsunion, im Sinne einer Aufgabenverteilung und engen Zusammenarbeit. Wir wollen ein Verbund von Nationalstaaten bleiben, die eng kooperieren, keine vereinigten Staaten von Europa.
Worin sehen Sie die größte Herausforderung in der EU?
Der Rechtsruck in Europa, das macht mir die allergrößten Sorgen. Die Rechtspopulisten haben vergessen, was durch extremen Nationalismus zustande kommt. Und wenn ich mir einige Demagogen im Europäischen Parlament ansehe, finde ich das schon beängstigend.
Müssten nicht statt der Briten einige Staaten die EU verlassen, für die deren Werte und Grundrechte nichts zählen?
Wir rütteln sie gerade wach. Es gibt jetzt endlich eine Rechtsgrundlage, Subventionen zu streichen, wenn Länder den Rechtsstaat abschaffen wollen und die europäischen Grundwerte ignorieren. Die Entwicklungen in Polen und Ungarn waren Anlass dafür, diese Regelungen zu treffen.
Herne und andere Städte im Ruhrgebiet haben große Probleme mit Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien. Hat es hier Versäumnisse auf Seiten der EU gegeben? Ganz konkret: Ist der Beitritt dieser Staaten zu früh erfolgt?
Ja, der Beitritt von Rumänien und Bulgarien war verfrüht. Ich habe damals dagegen gestimmt. Diese Länder sind bis heute nicht EU-reif, die Korruption blüht. Daraus haben die Mitgliedstaaten aber gelernt. Der Ministerrat ist vorsichtiger bei Erweiterungen geworden. Unsere Städte haben aber auch Fehler gemacht.
Was meinen Sie damit?
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit hat Regeln. Nach ihrem Inkrafttreten für Bulgarien und Rumänien im Jahr 2014 wurden diese Regeln nicht konsequent eingehalten. Man hätte die Menschen zurückschicken müssen, wenn diese hier keine Arbeit gefunden haben.
Würden Sie nach Ablauf Ihres Mandats Urlaub in der Türkei machen?
Nein, nicht so lange Erdogan da ist, ich würde mich nicht sicher fühlen. Ich bedauere das, weil ich die Türkei und ihre Menschen sehr mag.
Sie haben sich immer gegen einen Beitritt der Türkei zur EU ausgesprochen. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?
Die Wahl in Istanbul wird annulliert, der Bürgermeister seines Amtes enthoben. An der Situation in der Türkei wird sich nichts ändern, so lange Erdogan lebt. Das Land hat sich zu einem Unterdrückungssystem entwickelt; die Opposition hat eigentlich keine Chance. Demokratie gibt es schon lange nicht mehr, der Rechtsstaat ist abgeschafft. Ich bin dafür, die Beitrittsverhandlungen zu beenden, die Vorbeitrittszahlungen umzuwidmen und Organisationen in der Türkei zukommen zu lassen, die sich für Demokratie einsetzen. Statt über den Beitritt zu verhandeln, sollten wir über die Zollunion Druck ausüben. Wir sollten ihren Fortbestand mit Bedingungen verknüpfen. Die Menschenrechte müssen geachtet werden.
Verträgt sich ihre Ablehnung des EU-Beitritts mit dem Flüchtlingsabkommen?
Wir haben das Recht, unsere Interessen zu schützen. Außerdem ist es richtig, für Flüchtlinge Möglichkeiten zu schaffen, nahe bei ihrem Herkunftsland zu bleiben. Die meisten wollen nicht nach Europa, sie wollen nach Hause. Wir helfen der Türkei mit viel Geld, die Flüchtlinge zu versorgen. Sie hat mit der Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen Großes geleistet. Das ist aber kein Grund für einen EU-Beitritt.
Hat Europa angesichts von Hunderten von Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, in der Asylpolitik versagt?
Es hat in der gesamten Flüchtlingsfrage Versagen gegeben. Ich finde es dramatisch, dass wegen der Blockade der rechtspopulistischen italienischen Regierung die Hilfsaktionen auf dem Mittelmeer eingestellt worden sind. Allerdings hat die EU, auch Deutschland, Italien anfangs allein gelassen, eine gewisse Retourkutsche ist verständlich. Aber was jetzt passiert, geht einfach nicht. Ich finde es richtig, dass wir 2015 in Deutschland die Menschen aufgenommen haben. Wir haben das verkraftet und niemand musste deswegen etwas abgeben.
Lob für AKK, Plädoyer für Brüssel
Straßburg oder Brüssel?
Brüssel. Es ist nicht mehr vermittelbar, dass es zwei Arbeitsorte gibt. Die Entscheidung für Brüssel spart nicht nur viel Geld, sondern auch Zeit, weil die Abgeordneten viel besser dorthin reisen können als nach Straßburg.
AKK oder Merz?
Man darf gespannt sein. Ich kenne AKK, sie ist eine tolle Frau, patent, burschikos, realistisch. Und ich kenne Merz, ein wirklich guter Mann. Wir werden sehen.
Kreuzfahrt oder Oldtimer-Tour?
Oldtimer-Tour mit meinem Morris Minor Traveller, dem englischen Volkswagen. Ich habe ihn vor Jahren im Internet gefunden, den Transport von England organisiert – was gar nicht einfach war-- und auch den Holzrahmen selbst aufgearbeitet.
Die SPD ist für mich . . .
. . . keine Konkurrenz mehr. Aber der Niedergang der SPD ist auch ein Problem für die CDU. Fast überall in der EU ist die Sozialdemokratie in freiem Fall. Da ist gründlich was schief gelaufen.
Nach meinem Abschied aus dem EU-Parlament werde ich am meisten vermissen . . .
. . . das internationale Umfeld, obwohl ich vorhabe, viele Kollegen „heimzusuchen“. Am wenigsten vermissen werde ich die fürchterlichen Staus auf unseren Autobahnen.
Ich plane nun erst einmal . . .
. . . ein Sabbatjahr. Zeit für Familie und Freunde, für den Garten, meinen Hund, einen spanischen Mischling, und den Morris Minor.
>> INFO: Agarwissenschaftlerin mit Doktortitel
Renate Sommer ist 1999 für die CDU ins Europa-Parlament gewählt worden. Zuvor war sie fünf Jahre Stadtverordnete in Herne.
Von 2010 bis 2013 führte sie als Vorsitzende die Herner CDU.
Sommer ist Agrarwissenschaftlerin. 1996 promovierte sie in der Abteilung Welternährungswirtschaft.
Die 60-Jährige Sodingerin ist verheiratet und hat eine Tochter.