herne. . Leon Mundt (15) ist schwerstbehindert, muss rund um die Uhr betreut werden. Nun will die Krankenkasse Geld für lebenswichtige Hilfe streichen.
Melanie und Sebastian Mundt sind fassungslos. Ihr schwerstbehinderter Sohn Leon (15) braucht eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, um sein Leben zu erhalten. Bislang hat die Krankenkasse eine Pflegekraft bezahlt, die die Eltern bei der Mammutaufgabe unterstützt. Doch nun will die Versicherung die Kosten nicht mehr übernehmen.
Leons Leiden hat vor sechs Jahren begonnen, als sein zentrales Nervensystem erkrankte. Inzwischen sind seine Gehirnfunktionen eingeschränkt, er kann weder sprechen und hören noch sehen.
Auf den Rollstuhl ist Leon schon seit langer Zeit angewiesen. Puls und Atmung werden ständig kontrolliert, weil Herz, Lunge und Muskeln nicht mehr regulär arbeiten. „Wir sind so froh, dass wir eine Pflegekraft an unserer Seite haben, die uns 18 Stunden pro Tag unterstützt. Denn wir können Leon keinen Augenblick aus den Augen lassen“, sagt die 35-jährige Mutter.
Pflegekraft soll brenzlige Situationen vermeiden
Die Begründung, die die Krankenkasse BIG den Eltern nun gegeben hat, weshalb eine Finanzierung der Hilfe nicht mehr in Betracht komme, „ist für uns nicht nachvollziehbar“. Darin heißt es, dass eine solche Krankenpflege nur noch dann übernommen werde, wenn „mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist“.
Die Pflegekraft komme aber doch zu ihnen, um eben solche brenzligen Momente zu vermeiden, betonen Melanie und Sebastian Mundt. Wenn sie anhand der Geräte, die Leon ständig bei sich führt, bemerkt, dass ein Einschreiten erforderlich ist, „dann reagiert sie auch sofort“.
Aufschub durch Eilverfahren am Sozialgericht
Erst am vergangenen Wochenende habe sich wieder ein solcher Notfall ereignet. Leon bekam plötzlich starke Hustenanfälle. Als weder das Absaugen von Sekret noch Sauerstoffzufuhr Hilfe brachten, wurde er vom herbeigerufenen Notarzt ins Krankenhaus eingeliefert. Untersuchungen ergaben hohe Entzündungswerte. Die Ärzte gingen davon aus, dass Cortison das Immunsystem geschwächt habe, erläutert die Mutter.
Eigentlich wollte die Kasse für die Pflegekraft schon ab dem 1. März nicht mehr zahlen. Der Anwalt der Familie hat aber beim Sozialgericht Gelsenkirchen im Eilverfahren einen Aufschub um einen Monat erwirkt. Der Jurist hat auch Akteneinsicht gefordert.
Eingliederungshilfen reichen nicht
Dass sich die Krankenkasse derart sträubt, passt nach Worten der Eltern auch überhaupt nicht zu dem bisherigen Verhalten der BIG. Bislang habe sie immer alle anfallenden Kosten übernommen. „Wir wissen, dass da große Summen erforderlich waren“, sagen Melanie und Sebastian Mundt einmütig. Ob Spezialbett, Rollstuhl mit Sonderanfertigungen oder Bewegungsgerät, um nur drei Beispiele zu nennen – die Kasse habe die Familie dabei stets unterstützt. Der Vater öffnet zudem zwei große Schränke, die gefüllt sind mit Heil- und Hilfsmitteln.
Erkundigt hat sich das Ehepaar auch bereits, ob es anderweitig Unterstützung bekommen kann. Integrationshelfer, die beispielsweise Schüler mit Behinderung im Unterricht begleiten, bringen nicht die erforderlichen medizinischen Kenntnisse mit. Die so genannten Eingliederungshilfen seien „ein Tropfen auf den heißen Stein“, eine Pflegekraft koste pro Stunde 36 Euro, so Melanie Mundt.
Melanie Mundt hat nach der Erkrankung des Sohnes ihren Beruf als Büroleiterin in einer Anwaltskanzlei aufgegeben, ihr Mann absolviert nach einem Arbeitsunfall eine Umschulung zum Speditionskaufmann. Vor zwei Jahren ist die Familie in eine ebenerdige und komplett umgebaute Wohnung an der Castroper Straße umgezogen. „Wir haben uns eingerichtet, um gemeinsam mit Leon und seinem zwei Jahre alten Bruder Mick hier zu leben“, betont das Paar.
Krankenkasse verweist auf Medizinischen Dienst
Die BIG habe immer versucht, die Familie so gut es geht zu unterstützen, teilt die Krankenkasse auf Anfrage der WAZ mit. Anfang 2019 habe man erfahren, dass sich „der Allgemeinzustand des Kindes verbessert habe“. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) habe mitgeteilt, dass der letzte Krampfanfall im Mai 2018 dokumentiert sei. Zudem habe der MDK nach eigener Aussage Leon „am 20. Februar 2019 begutachten können“. Dieser Aussage widerspricht die Familie Mundt ganz vehement und betont, dass es den Termin nicht gegeben habe. „Der letzte Besuch des medizinischen Dienst der Krankenkassen liegt vier Jahre zurück - mindestens“.
Durch die Auskunft des MDK erfülle das Kind nicht mehr die „Kriterien für eine Intensivpflege“, heißt es in dem Schreiben der BIG an die Redaktion. Danach müsse er nicht mehr beatmet werden und ein Schleimabsaugen sei nur im Erkältungsfall notwendig.
Krankenkasse will Entscheidung des Gerichts abwarten
Auch hier berichtet Familie Mundt über ganz andere Erfahrungen, die sie Tag und Tag gewinnt. Das hat auch der behandelnde Arzt im Widerspruch vor Gericht geschrieben. Sauerstoffzugabe sei notwendig, ebenso müsse die Gabe von Notfallmedikamenten dauerhaft möglich sein.
Warum „die Einschätzungen des Arztes und des MDK abweichen, können wir medizinisch nicht beurteilen“, heißt es in dem Brief der „BIG - direkt gesund“. Sie will nun die Entscheidung des Gelsenkirchener Gerichts abwarten.
>> INFO: Krankheit von Leon verläuft schubweise
Leon ist an Neuromyelitis optica, kurz NMO, erkrankt. Sie verläuft wie Multiple Sklerose (MS) schubweise.
Der Junge besucht in Gelsenkirchen die Löchterschule für Körperbehinderte. Auch wenn eine Kommunikation mit Leon nicht über Sprache oder Blicke möglich ist, vermitteln, so die Eltern, Puls- und Atemwerte, aber auch sein gesamtes Verhalten, ob er sich wohlfühlt.