herne. . Die drei Herner Gesamtschulen stehen kurz vor dem Kollaps, so der Tenor auf einer SPD-Veranstaltung in Wanne. Und das sind die Gründe.

„Bildungschancen an Gesamtschulen - in Gefahr!“ – so haben die vier Wanner SPD-Ortsvereine ihre Veranstaltung am Donnerstagabend überschrieben. Zu der zweistündigen Diskussion im Wanner Hof hätte auch dieser Titel gepasst: „Gesamtschulen vor dem Kollaps!“ In deutlichen Worten beschrieben Schulleiter, Lehrer und Politiker den Notstand an den drei Herner Gesamtschulen.

... und nicht nur dort: Alle Gesamtschulen im nördlichen Ruhrgebiet litten unter der dramatischen Lage, hieß es. Ob Integration oder Inklusion: „Die Gesamtschulen tragen die Hauptlast, werden aber nicht mit den nötigen Ressourcen ausgestattet“, sagte Stephan Helfen, Leiter der Erich-Fried-Gesamtschule.

Die Schulleiter (v.r.) Stephan Helfen (Erich-Fried-Gesamtschule), Katharina Rodermund (Gesamtschule Wanne-Eickel) und Sylke Reimann-Perez (Mont-Cenis-Gesamtschule).
Die Schulleiter (v.r.) Stephan Helfen (Erich-Fried-Gesamtschule), Katharina Rodermund (Gesamtschule Wanne-Eickel) und Sylke Reimann-Perez (Mont-Cenis-Gesamtschule). © Rainer Raffalski

Helfen und seine Kolleginnen Sylke Reimann-Perez (Mont-Cenis-Gesamtschule) und Katharina Rodermund (Gesamtschule Wanne-Eickel) übten harsche Kritik an der „Abschulung“ an Gymnasien und Realschulen, sprich: an der Weitergabe von Schülern meistens nach Klasse 7, die die Anforderungen dieser Schulformen nicht erfüllen. „Diese Schulen müssen eine Kultur des Behaltens entwickeln“, sagte Helfen. Es sei das erklärte Ziel der Landesregierung, Gymnasien und Realschulen von dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe auszunehmen. „Wir fühlen uns allein gelassen.“

Zur Erinnerung: 135 Schüler mussten im Sommer von Gymnasien und Realschulen an die Gesamtschulen wechseln. Fünf neue Klassen mussten an Gesamtschulen und der Hans-Tilkowski-Schule gebildet werden; vier Container wurden oder werden aufgestellt.

Ein Vater spricht von Insolvenz der Gesamtschulen

„Noch einmal wird das nicht möglich sein“, sagte Katharina Rodermund. Es fehle nicht nur an Räumen und Lehrern. Sie hätten große Probleme, die Schulformwechsler nachträglich in das System Gesamtschule zu integrieren.

Der Vater eines Wanner Gesamtschülers analysierte die Situation so: „Wirtschaftlich gesprochen handelt es sich hier um eine Insolvenz. Eigentlich müsste der Schulbetrieb eingestellt werden.“ Auch andere Eltern machten ihrem Ärger über die Bedingungen Luft.

Knapp 50 Interessierte kamen zur Diskussion der SPD in den Wanner Hof - viel zu wenig, kritisierte ein Elternvertreter der Mont-Cenis-Gesamtschule.
Knapp 50 Interessierte kamen zur Diskussion der SPD in den Wanner Hof - viel zu wenig, kritisierte ein Elternvertreter der Mont-Cenis-Gesamtschule. © Rainer Raffalski

Es gab aber auch Selbstkritik: Ein Elternvertreter der Gesamtschule Mont-Cenis beklagte mit Blick auf die knapp 50 Gäste, dass an diesem Abend sehr wenig Eltern den Weg nach Wanne gefunden hätten. Die Eltern der Gymnasiasten wüssten sich zu wehren und ihre Interessen durchzusetzen. Sie hätten eine Lobby, obwohl sie nicht in der Mehrheit seien.

Carsten Piechnik, Lehrer am Erich-Fried, stellte die Systemfrage. Das gegliederte Schulsystem sei darauf ausgerichtet zu selektieren. Diese Grundsatz-Diskussion wollte zumindest an diesem Abend aber (fast) niemand führen. Schnelle Lösungen müssten her, um fürs nächste Schuljahr das Schlimmste zu verhindern, so die Schulleiter.

Die SPD will in einer Sondersitzung des Schulausschusses einen ersten kleinen Schritt machen: Gemeinsam mit der CDU stellt sie eine ans Land gerichtete Resolution zur Abstimmung, in der u.a. die „Kultur des Behaltens“ und Maßnahmen gegen Abschulungen gefordert werden. „Wir wollen möglichst viele andere Städte für unseren Kampf gewinnen“, sagte Schulausschussvorsitzende Birgit Klemczak (SPD). Sie bot den Eltern an, alle möglichen Formen des Protestes zu unterstützen – bis hin zum Marsch nach Düsseldorf.

>> INFO: Die Resolution von SPD und CDU

Und das ist die von SPD und CDU für die Sondersitzung des Schulausschusses am Dienstag, 9. Oktober, (der Ort steht noch nicht fest) vorgelegte Resolution. Nach dem Ausschuss soll sich auch der Rat am 30. Oktober hinter die Resolution stellen.

„Der Schulausschuss empfiehlt dem Rat der Stadt, die nachfolgende Resolution an den Landtag und die Landesregierung des Landes Nordrhein Westfalen zur Sicherung der Bildungschancen an Herner Schulen, insbesondere an den Gesamtschulen, in seiner kommenden Sitzung am 30.10.2018 zu verabschieden: Der Rat der Stadt setzt sich uneingeschränkt für die Herner Schulen ein und unterstützt die Forderung der Herner Schulen, insbesondere der Gesamtschulen, nach einer langfristigen Sicherung der Bildungschancen an ihren Einrichtungen.

Der Rat der Stadt Herne fordert den Landtag und die nordrhein-westfälische Landesregierung auf: der Gefahr einer ungeordneten Schulentwicklung im Lande entgegenzuwirken, die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen zu verbessern, sich verstärkt dafür einzusetzen, dass der individuelle Bildungserfolg nicht mehr so stark von der sozialen Herkunft beeinflusst wird, durch geeignete Maßnahmen Abschulungen zu vermeiden und den Verbleib von Schülerinnen und Schülern an ihrer gewählten Schulform zu fördern, eine „Kultur des Behaltens“ zu stärken und weiterzuentwickeln, die Möglichkeiten des Schulgesetzes (aktuell § 132 c) auszuweiten und dabei insbesondere die Situation der Gesamtschulen vor Ort einzubeziehen, Integration und Inklusion auch künftig als gemeinschaftliche Aufgabe aller Schulformen anzusehen, Unterstützungssysteme auszuweiten, insbesondere eine langfristige Sicherung einer bedarfsgerechten Schulsozialarbeit zu ermöglichen, die schulgesetzlichen Rahmenbedingungen (Klassenbildungswerte, Relation „Schülerinnen und Schüler je Stelle“, Unterrichtsmehrbedarfe etc.) vor dem Hintergrund verstärkter sozialer Disparitäten den regionalen / örtlichen Gegebenheiten anzupassen.

Die veränderte Schulstruktur braucht darüber hinaus dringend langfristige Lösungen. Der Rat der Stadt Herne appelliert daher an die Landesregierung und die im Landtag vertretenen Parteien, sich zeitnah mit der Frage einer zukunftsfähigen Schulentwicklung im Lande auseinanderzusetzen und die Lehrerausbildung entsprechend zu reformieren.“

Ergänzung: Paragraph 132c des Schulgesetzes NRW im Wortlaut:
„Sicherung von Schullaufbahnen:
(1) Der Schulträger einer Realschule kann dort einen Bildungsgang ab Klasse 7 einrichten, der zu den Abschlüssen der Hauptschule (§ 14 Absatz 4) führt, insbesondere wenn eine öffentliche Hauptschule in der Gemeinde oder im Gebiet des Schulträgers im Sinne des § 78 Absatz 8 nicht vorhanden ist. Dies gilt als Änderung der Schule im Sinne des § 81 Absatz 2.
(2) Schülerinnen und Schüler in dem Bildungsgang gemäß Absatz 1 werden im Klassenverband mit Schülerinnen und Schülern des Bildungsgangs gemäß § 15 Absatz 1 unterrichtet; hierbei sind Formen innerer und äußerer Differenzierung möglich. § 15 Absatz 3 Satz 2 bleibt unberührt.
(3) Schülerinnen und Schüler einer Realschule mit dem Bildungsgang gemäß Absatz 1 Satz 1 können in den Fällen des § 13 Absatz 3 und des § 50 Absatz 5 Satz 2 ihre Schullaufbahn dort fortsetzen.“