Herne. . Brigitte Unterberg (88) zeigt ihrer Familie die Orte ihrer Jugend in Röhlinghausen. Vieles hat sich verändert seit den 1930er-Jahren.
Seine Heimatstadt nach Jahrzehnten aufzusuchen, heißt, sie neu zu entdecken. Ich bin an der Tiefenbruchstraße 2 in Röhlinghausen geboren, in St. Barbara getauft worden und zur Görresschule, später zur Südschule, gegangen, bis der Krieg dazwischenfunkte und unsere Familie, meine Mutter, zwei Brüder und mich, als Umquartierte nach Pommern schickte. Wir sind später davongekommen, weil wir über die Ostsee nach Dänemark flüchten konnten, und sind zwei Jahre nach Kriegsende glücklich wieder heimgekehrt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Was ich sagen wollte, ist, dass ich nun das „Ungeheuerliche“ unternommen habe, meiner Tochter Tanja und ihrem Mann Vicente Stationen meines Lebens als Kind in Wanne-Eickel zu zeigen. Viele Fragezeichen sind mir unterwegs begegnet, denn es ist längst nicht mehr alles so, wie es vor mehr als einem halben Jahrhundert war.
Auch die „Salzstrecke“ gibt es nicht mehr
Angefangen an der Tiefenbruchstraße, an der früher das Haus lag, in das die Eltern 1930 eingezogen waren. Es war das Eckhaus an der Bahnstraße, die heute Görresstraße heißt. Und die Eisenbahn vor unserer Tür, die als „Salzstrecke“ 1955 eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte, gibt es auch nicht mehr. Dahinter wölbte sich eine Abraumhalde, deren Boden belastet war und deshalb nicht begangen werden durfte. Nun grünt und blüht es dort.
Die Häuser der Zechenkolonie, in der wir wohnten, standen breitbeinig in der Straße, und hinter jedem Haus gab es vier Streifen Land, für jeden der Mieter einen. Zwischen den Streifen befand sich eine Furche, wie man den schmalen Weg, die Trennlinie, nannte. Kaum einer, der sich eine Kante, aus Steinen etwa, erlaubte. Das Stückchen Erde wurde bis zum letzten Zentimeter für Gemüse und Kartoffeln gebraucht. Heute zieren die Gärten zwischen den parallel verlaufenden Straßen Tiefenbruch- und Rolandstraße Bäume, Sträucher und Blumenrabatten, dass man einen Park vermuten möchte. So ändern sich die Zeiten.
Und unser Haus von damals, das gibt es auch nicht mehr; das hat eine Bombe hinweggerafft, als wir in Pommern waren. Heute steht ein neues dort, aber mein Herz blutet, weil es modern, aber nicht so behäbig und einladend daherkommt wie unser altes Haus mit eigenem Eingang an jeder Ecke, für jede Familie eine eigene Treppe. Hier nickt meine Tochter, die die alten Häuser liebt, zum ersten Mal.
Butterbrot-Verstecken spielen
Ich weiß, dass meine Mutter erzählte, dass ihre Freundin aus dem Nachbarhaus, in dem eine kinderreiche Familie wohnte, gebettelt habe: „Komm, lass uns Butterbrot-Verstecken spielen. Wer es findet, darf einmal beißen“. Jede zweite Familie in den Zechenkolonien hatte damals polnische Wurzeln. Heute leben dort viele Immigranten aus anderen Ländern. Sie werden ebenfalls, besonders nach dem Zechensterben, ihre Probleme haben, aber um „einmal beißen“ betteln brauchen sie nicht.
Da die Häuser inzwischen in Privatbesitz sind, haben sie alle auch ihr individuelles Gesicht. „Für mich“, sagt meine Tochter, „sehen sie mit ihren vielfältigen Formen und Farben ein bisschen wie die Villa Kunterbunt aus Pippi Langstrumpf aus.“ Das ist ein Kompliment. Man sagt, dass die Zechen ihre Häuser beim Verkauf zuerst den Mietern angeboten haben. Das muss ein Schnäppchen gewesen sein. Und dann steuere ich die Rolandstraße an, in der damals meine Großeltern wohnten, die heute zwischen den Häusern 49-51 einen Findling mit einer Tafel zeigt, die diese Stelle als den Mittelpunkt des Ruhrgebiets ausweist. Das hätte sich kein Mensch träumen lassen, als damals die Bergleute aus der Siedlung ihre Zechen Pluto-Thies und Pluto-Wilhelm zum täglichen Schuften ansteuerten. Ach ja, die Zechen!
Da macht die Tochter große Augen
Ich weiß noch, dass die Frauen in der Siedlung, wenn sie Wäsche machten, immer erst in Richtung Zeche schauten, ob dort die Schlote rauchten, denn dann brauchten sie ihre Wäsche erst gar nicht im Garten aufzuhängen, weil der Ruß sich auf den weißen Laken niederließ. Meine Tochter macht große Augen. Unvorstellbar bei den Umweltauflagen heute.
Mein spanischer Schwiegersohn, der uns geduldig überallhin steuert, stellt das Navi auf Edmund-Weber-Straße ein. Ich meine die Höhe, in der sie auf die Westfalenstraße trifft. Denn da steht die Barbarakirche, die die alten Röhlinghauser beharrlich weiter so nennen, obwohl sie doch eigentlich Heilig-Geist-Kirche heißt. „Hier“, erkläre ich meiner Tochter, „war zu meinen Zeiten unser Lebensmittelpunkt, hier trafen wir uns nach der Messe am Sonntag, und nicht wenige verlegten ihren Sonntagmorgen’kaffee’ in die Wirtschaft Henkel an der Ecke“.
Auch die Hofstraße nimmt ihren Anfang im Dreistraßentreff. Wir fahren ein Stück die Hofstraße hinauf, die zum Kommunalfriedhof führt, wo die Eltern meiner Mutter begraben sind. Ein Stück weiter verlief die Prozession zu Fronleichnam. Aber ich muss schnell weg hier, denn da begegnet mir plötzlich mein 2011 verstorbener Mann, der uns in seliger Erinnerung erklärt: „Wir Messdiener immer vorneweg, mit Schellen und Weihrauchfass. Wir hatten Schwielen an den Händen vom Schwenken des Fasses, aber alle rissen sich darum, weil das Schwenken so feierlich war.“
Fliegeralarm: Schutz im Kanalschacht
Der Clou unserer Fahrt steht meiner Tochter und ihrem Mann noch bevor. Ich will zur Straße Auf der Wilbe, die an der Edmund-Weber-Straße, unweit der Kirche, ihren Anfang nimmt. Wir passieren die Brücke, die in Höhe der Turmstraße die Wilbe überspannt, und da ist der Gullydeckel, den ich meine, mitten auf der Straße! „Kannst du dir vorstellen, dass wir bei Fliegeralarm in diesen Abwasserschacht gestiegen sind“, frage ich meine Tochter. Meine Tochter guckt mich mit ungläubigen Augen an. Aber es ist wahr, wir sind die Sprossen zum Kanaltunnel mit der dicken Röhre hinuntergekrabbelt und haben uns dann schnell zur Seite gewandt.
Kann es sein, dass es noch derselbe Gullydeckel ist, den wir damals hochgehoben haben? Denn die Gußstahlwerke Gelsenkirchen haben diese dicken Brocken für die Ewigkeit gegossen. Irgendwann wurde uns das dann doch zu brenzlig, so dass wir lieber zum Bunker neben der Barbara-Kirche rannten.
Er steht noch heute da, und mein spanischer Schwiegersohn hätte zu gern einen Blick hineingeworfen, so einen Kasten hatte er noch nie gesehen. Aber die Tür war zu. Man sagt, dass der Bunker zwei Meter dicke Betonwände und -decken hat, tatsächlich hat er nicht einmal gewackelt, als einmal eine Bombe aufs Dach fiel. Warum steht der Bunker heute noch da?
>> ZUR PERSON: Brigitte Unterberg
Brigitte Unterberg wurde 1930 als Brigitte Blume in Wanne-Eickel geboren und in der St. Barbara-Kirche getauft. Zu Hause war sie an der Tiefenbruchstraße 2 in Röhlinghausen, zur Schule ging sie zur Görresschule, später in die Südschule.
Im Zweiten Weltkrieg wurde sie 1943 nach Pommern umquartiert, 1945 floh sie im März mit der „Deutschland“ nach Dänemark, Ende 1946 kam sie zurück nach Wanne-Eickel. 1949 machte sie ihren Abschluss an der Höheren Handelsschule in Bochum, 1950 fing sie bei der WAZ in Wanne-Eickel als Sekretärin an; später wurde sie freie Mitarbeiterin und verfasste zahlreiche Artikel.
1953 heiratete sie, bekam sechs Kinder. 1966 kehrte sie Wanne-Eickel den Rücken und zog mit der Familie nach Witten. Heute lebt die 88-Jährige im „betreuten Wohnen“ der Diakonie in Witten. Ihre Leidenschaft ist noch immer das Schreiben.