Herne/Bochum.. Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering ist seit 100 Tagen Staatsministerin in Berlin. Die WAZ traf die 38-Jährige zum Interview.
Die Herner und Bochumer SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering ist seit 100 Tagen Staatsministerin für internationale Kultur- und Bildungspolitik in Berlin. Die WAZ-Redakteure Tobias Bolsmann und Michael Muscheid trafen die 38-Jährige zum Interview in ihrem Herner Wahlkreisbüro.
Frau Müntefering, Sie sind in der Großen Koalition Staatsministerin für internationale Kulturpolitik. Was muss man sich unter diesem Amt vorstellen?
Michelle Müntefering: Als Staatsministerin bin ich Mitglied der Bundesregierung und habe eine Mittlerfunktion zwischen Bundestag und Regierung - und natürlich unterstütze ich den Außenminister. Konkret: Ich habe am Mittwochmorgen einen festen Platz am Kabinettstisch, stehe Rede und Antwort bei der Regierungsbefragung, mein Büro ist im Auswärtigen Amt und ich vertrete die Regierung in Ausschüssen. Den Bereich internationale Kulturpolitik habe ich zuvor ja im Bundestag mehrere Jahre mitverantwortet, auch als Sprecherin der SPD-Fraktion. Das Amt der Staatsministerin wurde in dieser Funktion nun deutlich aufgewertet, das ist neu. Mein Wahlkreisbüro bleibt natürlich an der Bochumer Straße.
Ihr Amt ist neu entstanden, sagen Sie. Es gibt nun 35 parlamentarische Staatssekretäre - mehr als jemals zuvor. Kritiker sagen, dass der Nutzen bei erheblichen Kosten überschaubar ist.
Müntefering: Diese Kritik gab es schon immer. Meine Vorgängerin im Amt war Maria Böhmer - Zuschnitt und Kabinettsrang sind neu. Die außenpolitische Verantwortung Deutschlands in der Welt ist unterdessen immens gewachsen. Allein in meinen Bereich fallen etwa alle Goethe-Institute weltweit, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das Institut für Auslandsbeziehungen, das deutsche Archäologische Institut, die Humboldt-Stiftung, das komplette Netz der Auslandsschulen sowie der gesamte afrikanische Kontinent. Wenn man diese unruhige Welt momentan betrachtet, kann man schnell erkennen: Es gibt genug zu tun.
Wenn man sich Ihren Lebensweg anschaut: Hiberniaschule, Journalismusstudium, Ratsmitglied. So ganz vorgezeichnet schien der Weg nicht zu so einem hochrangigen Kulturressort.
Müntefering: Als Jugendliche gab es für mich erst Kultur, die Politik kam später. Im Ruhrgebiet gab es viel zu entdecken: Gasometer, Lehmbruck-Museum, Industriekultur, Schlingensief bei den Ruhrfestspielen. In der Schule haben wir Brecht aufgeführt, ich war mehrere Jahre im Kulturausschuss des Stadtrats und zuletzt kulturpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Journalismus habe ich studiert, weil es im besten Falle eine Mischung aus beidem ist: Auseinandersetzung mit Gesellschaft und eine Kunst. Insofern schließen sich nun die Kreise.
Wollen Sie in Ihrem Amt ein Profil entwickeln?
Müntefering: Ich habe Schwerpunkte gesetzt unter der Überschrift „Freiheit stärken“. Es geht im Kern darum, dass unsere außenpolitische Verantwortung auch wertegeleitet ist. Ich will die Initiativen zum Schutz verfolgter Künstler ausbauen und den Jugendaustausch stärken, etwa im Bereich der Erinnerungskultur. Viele Lehrer bei uns würden gerne zu Gedenkorten fahren, können sich das aber gar nicht leisten. Die Arbeit mit Afrika, unserem Nachbarkontinent, wird wichtiger, nicht nur angesichts der Fluchtursachenbekämpfung. Der vierte Bereich ist Europa: Wie schaffen wir es, die Kraft der Kultur für die europäische Integration zu nutzen? Hier will ich auch die Städte und Gemeinden, die als internationale Akteure immer wichtiger werden, in ihren Initiativen, etwa bei Städtepartnerschaften, unterstützen.
Kommen Sie sich dabei nicht ins Gehege mit Monika Grütters? Sie ist ja bereits Kulturstaatsministerin. Wie ist ihr Verhältnis?
Müntefering: Kultur ist Ländersache, das Amt der BKM wurde vor 20 Jahren auf Bundesebene geschaffen. Die Kulturabteilung bei uns im Auswärtigen Amt wird 2020 bereits 100 Jahre alt, wir werten nun die internationale Dimension weiter auf. Frau Grütters und ich haben uns bei den Koalitionsverhandlungen kennengelernt, sitzen beide am Kabinettstisch, sind beide Profis.
Gibt es keine Rangeleien um Kompetenzen?
Müntefering: Der Koalitionsvertrag gibt uns gemeinsame Aufgaben, etwa die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit von Kulturgütern, die auch den Dialog mit den internationalen Partnern, und damit auch das Auswärtige Amt, braucht. Den internationalen Austausch gerade heute zu stärken, ist richtig und passt in die Zeit.
Wissen Sie aus dem Kopf, wie viele Länder Sie in den ersten 100 Tagen schon bereist haben?
Müntefering: Zuerst war ich in Europa: in Paris, Brüssel und London, jeweils an einem Tag. Dann in Nigeria und Südafrika – und mit dem Bundespräsidenten in der Schweiz und den USA.
Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Müntefering: In Los Angeles hat Frank-Walter Steinmeier das ehemalige Haus von Thomas Mann eingeweiht, in dem nun ein Ort des Austausches entsteht. Von dort aus hat Thomas Mann einst seine Interviews gegen Hitler aufgenommen. Nun werden kluge Köpfe wie Jutta Allmendinger dort an Zukunftsfragen arbeiten. Afrika hingegen ist für mich eine neue Welt, die mich überrascht und wo ich hautnah erlebe: Alle Chancen, alle Risiken dieses vielfältigen Kontinents sind auch unsere. Wer meint, das hat mit uns nichts zu tun, irrt gewaltig.
Sie haben vom Ruhrgebiet als Kulturhochburg gesprochen. Kann die Welt vom Ruhrgebiet lernen?
Müntefering: Auf jeden Fall. Ich nehme das Ruhrgebiet überall mit hin, trage es bei mir. Unsere Erfahrungen des Strukturwandels, die Einwanderungsgeschichte – Metropolen auf der ganzen Welt interessieren sich dafür. Und ich meine, wir haben auch ein besonderes kulturelles Gut mit hervorgebracht, das heute wieder hoch aktuell ist: Die Mitbestimmung, die Arbeitnehmerrechte.
Sie wollen die Fahnen des Ruhrgebiets und Hernes hoch halten. Vor der Bundestagswahl haben Sie gesagt, dass Sie es mögen, wenn Sie auf der Bahnhofstraße angesprochen werden. Kommt das jetzt nicht zu kurz? Oder ist man durch das Amt sprichwörtlich etwas abgehoben?
Müntefering: Ich bin Herne seit meiner Geburt, seit 38 Jahren treu, das wird sich nicht ändern.
Aber Sie sind ja seltener hier.
Müntefering: Die Zeit ist in der Tat knapper und wertvoller geworden. Ich trage Verantwortung und habe einen durchgetakteten Kalender. Ich dachte immer, noch mehr arbeiten ginge gar nicht. Jetzt stehe ich einfach noch früher auf - man muss die Zeit nutzen.
Sie sind 100 Tage im Amt. Schaffen Sie auch die nächsten 100 Tage?
Müntefering: Wir sind als SPD nach intensiver Diskussion mit dem Anspruch in die Regierung eingetreten, dass wir nicht nur zwei mal 100 Tage schaffen, sondern die gesamte Legislatur. Im Koalitionsvertrag haben wir uns einiges vorgenommen, das wollen wir umsetzen. Einiges ist ja bereits gelungen, wie die Brückenteilzeit, das Gute-Kita-Gesetz ist auf dem Weg und mit der Rückkehr zur Parität schaffen wir eine Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von rund 7 Milliarden Euro.
Die SPD hat das aber nicht allein in der Hand, wenn man sich die Lage in Berlin anschaut.
Müntefering: Nein. Wir erleben gerade eine Machtauseinandersetzung zwischen CDU und CSU, ein unwürdiges Schauspiel. Ich halte das für hochgefährlich - für Deutschland, Europa und die gesamte Demokratie.
Hat die CSU dabei nur die absolute Mehrheit bei der Landtagswahl im Oktober im Blick?
Müntefering: Das darf man vermuten - aber es geht auch um Kanzlerin Merkel. Da wird ein Punkt aus einem angeblichen Master-Plan diskutiert, den kein Mensch kennt und das Land mit viel AfD-Vokabular nach rechts getrieben. Das ist schlimm.
Die SPD hat gerade nicht nur Probleme mit dem Streit innerhalb der Union, sondern auch mit sich selbst. In der Rückschau: Wie kommt es, dass die SPD so kräftig Wähler verloren hat?
Müntefering: Wir sehen überall auf der Welt neuen Populismus. Die SPD muss sich Gedanken machen. Das tun wir, auch, indem wir Fehler aufarbeiten. Die SPD muss sich als linke, progressive Partei klarer abgrenzen zu anderen Parteien. Außerdem brauchen wir eine stärkere Orientierung in die Zukunft. Wir müssen Innovation und wirtschaftliche Chancen in den Blick nehmen, Wohlstand sichern. Und es geht darum, auch die soziale Gesellschaft in diesem rasanten Wandel zu bewahren.
Geht das denn: eine Erneuerung in der Regierungsverantwortung?
Müntefering: Ja. Aber es gibt keinen Automatismus. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag auch Orientierungsdebatten festgelegt. Dabei soll das Parlament an bestimmten Tagen nur über ein Thema sprechen, etwa über Wirtschaftspolitik oder Europa, ohne dritte Gesetzesänderung oder Klein-Klein. Die Bürger sollen sich ein Bild machen können von den unterschiedlichen Vorstellungen in der Politik.
Bei den Vorstandswahlen in Herne haben Sie zuletzt nur 66 Prozent der Stimmen erhalten. Worauf führen Sie das doch eher enttäuschende Ergebnis zurück?
Müntefering: Ich habe auf Unterbezirksparteitagen immer schon knappere Ergebnisse erzielt und musste mich oft in Kampfkandidaturen durchsetzen. Auch bei der ersten Bewerbung um das Bundestagsmandat, das wirkt nach. Aber das ist okay. Das gehört in einer Demokratie auch dazu.
Sind Sie jemand, der polarisiert?
Müntefering: Ich vertrete meine Meinung, auch innerhalb der Partei. Bei der Bundestagswahl hatte ich das beste Erststimmenergebnis der SPD in NRW und das drittbeste bundesweit. Es gibt zum Glück viele Menschen - in und außerhalb der SPD - die mich unterstützen, bekräftigen und mir vertrauen. Auch als Team im Vorstand der SPD arbeiten wir eng zusammen. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich mich nicht auch immer fragen würde: Wie kann man sich verbessern und weiterentwickeln?
Sie sprachen die Erststimmen an: Den Wahlkreis Herne-Bochum II haben Sie souverän gewonnen. Ihr Kontrahent von der CDU ist Paul Ziemiak, der für die CDU über die Liste in den Bundestag eingezogen ist. Stimmen Sie sich mit ihm ab, etwa nun für Herne etwas zu bewegen?
Müntefering: Wir sehen uns im Bundestag und sprechen natürlich auch miteinander, am Rande des Plenums oder bei Veranstaltungen. Aber es gibt auch politische Unterschiede. Für das Ruhrgebiet arbeite ich intensiv mit den SPD-Abgeordneten im Revier an unseren sozialdemokratischen Vorstellungen, einem sozialen Arbeitsmarkt etwa, den die CDU nicht wollte, den wir aber in den Koalitionsvertrag verhandelt haben.
Macht so ein Zusammenschluss nicht mehr Sinn, wenn er parteiübergreifend ist?
Müntefering: Das hat es in bestimmten Fragen gegeben und ist da sinnvoll, wo wir alle als Stimme des Ruhrgebiets auftreten müssen - auch innerhalb unser eigenen Fraktionen. Die haben eigene Schwerpunkte, ohne die SPD hätte es viele Fortschritte für das Ruhrgebiet nie gegeben. Die Bürgerinnen und Bürger haben die Wahl, welche Partei sie stärken. Danach gibt es Koalitionen. Derzeit: die Große Koalition.
Bitte ergänzen. . .
Bitte ergänzen – das baten wir Michelle Müntefering. Heißt: Die WAZ formulierte einen Satz, und die Abgeordnete führte ihn fort:
Ein BVB-Trikot würde ich. . .
. . .ganz großzügig meinem Vater zum Geburtstag schenken.
Leute, die mich noch immer „Die Frau vom Franz“ nennen. . .
. . .wissen zumindest, dass ich verheiratet bin.
Markus Söder finde ich. . .
. . .diplomatisch ausgedrückt: Nicht so mein Typ.
Wenn ich mal abschalten möchte, dann. . .
. . .lade ich meine Freundinnen zum Frauenabend ein.
Und „der Franz“, muss der woanders hingehen?
Darf er -- seine Käsebrote sind beliebt.
Fußball-Weltmeister wird. . .
. . .sorry, ich brauch noch das Wochenende, um den Schmerz nach dem Vorrunden-Aus zu verarbeiten.