Herne. . Ehrenamtliche Notfallseelsorger stehen Menschen in Extrem-Situationen zur Seite. Sie erzählen, wie sie mit der Trauer von Angehörigen umgehen.
Es kann ein schwerer Unfall sein, ein Gewaltverbrechen oder ein natürlicher Tod. Die Ehrenamtler der Notfallseelsorger unterstützen Angehörige in Extrem-Situationen. WAZ-Redakteurin Karoline Poll hat mit Pfarrer Hajo Witte (63) und den Ehrenamtlern Tina Wilking-Paulinsky (52) und Hans Zabel (42) darüber gesprochen, wie sie sich auf ihre Einsätze vorbereiten, und wie sie besonders schlimme Tage verarbeiten können.
Sie haben als Notfallseelsorger Bereitschaft, sitzen gerade beim Abendessen, dann klingelt das Telefon...
Hajo Witte: Genau, so läuft das. Feuerwehr oder Polizei melden sich, wenn sie uns brauchen. Wir haben ein Notfallhandy, das klingelt dann bei den Diensthabenden.
Und dann lassen Sie alles liegen und fahren los?
Hajo Witte: Es ist nicht gut, wenn wir in Hektik aufbrechen. Wir haben Zeit: Tief durchatmen, Jacke anziehen, Rucksack packen. Wichtig ist, dass wir heile ankommen.
Tina Wilking-Paulinsky: Aber sobald das Telefon klingelt, haben wir alles griffbereit.
Was wissen Sie zu dem Zeitpunkt über den Fall?
Hans Zabel: Meistens nur, dass jemand verstorben ist.
Anziehen der Dienstkleidung ist Ritual
Sie wissen also gar nicht, was sie erwartet?
Tina Wilking-Paulinsky: Selten. Meistens wissen wir noch, wer zu betreuen ist, aber das war’s dann. Die eigentliche Übergabe findet vor Ort statt. Wir kennen keinen Menschen, müssen dann schauen, wie wir den Leuten zur Seite stehen können.
Was geht Ihnen dann auf der Fahrt zum Einsatzort durch den Kopf?
Hans Zabel: Man fragt sich natürlich, was einen erwartet. Das ist häufig ganz anders, als man sich das vorstellt. Ich gehe durch, was hinter dem Stichwort von der Leitstelle stecken könnte.
Tina Wilking-Paulinsky: Mit dem Anziehen unserer Dienstkleidung fokussieren wir uns darauf, was uns erwartet. Ich habe dann nichts Privates mehr im Kopf. Jeder geht anders mit dem Tod um – darauf lassen wir uns ein. Wir sind einfach da.
Menschen helfen, ihre Angelegenheiten zu regeln
Sie sind meist ganz kurz nach einem Todesfall vor Ort. Was erwartet Sie dort?
Tina Wilking-Paulinsky : Bei meinem letzten Einsatz ist ein älterer Mann Zuhause gestorben. Dessen Tochter hatte große Angst, wie sie das ihrem Sohn beibringen soll. Der hatte zu seinem Großvater ein richtig gutes Verhältnis, sie wollten in der kommenden Woche noch ein Handy zusammen kaufen. Genau als ich da war, rief der junge Mann an und wollte seinen Opa sprechen. Doch die Mutter hat sich nicht getraut, zu sagen, dass der tot ist.
Konnten Sie der Frau helfen?
Tina Wilking-Paulinsky : Wir haben zwei Stunden geredet, dann fühlte sich die Mutter stark genug, es ihrem Sohn zu sagen. Man kann es nicht schönreden, man muss auf den Punkt bringen, dass der Großvater tot ist.
Hajo Witte: Das ist Notfallseelsorge pur. Menschen zu befähigen, das zu tun, wo sie im Moment glauben, das nicht geregelt zu kriegen.
Sie kennen die Abläufe
Was können Sie noch tun?
Hans Zabel: Man muss die Angehörigen begleiten, ihnen erklären, was gerade passiert – etwa wenn die Kriminalpolizei wegen einer ungeklärten Todesursache kommt. Das passiert sehr häufig.
Hajo Witte: Wir haben Zeit und wir kennen die Abläufe. Das Ziel unserer Einsätze ist nicht zu trösten, sondern zu stabilisieren. Das gelingt in der überwiegenden Zahl der Einsätze. Die Notfallseelsorger strahlen Ruhe aus, die erschüttert fast nicht. Zumindest wenn sie im Einsatz sind – wie es im Inneren aussieht, das klären wir anschließend.
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Wie nahe gehen Ihnen Einsätze?
Tina Wilking-Paulinsky: Ich bin nicht emotionslos. Aber mit dem Schreiben des Protokolls ist der erste Druck weg. Wir sind wirklich ein klasse Team. Da werfe ich den Ballast ab. Ich habe immer gesagt, wenn ich zu viel mit nach Hause nehme, dann höre ich auf.
Hajo Witte: Menschen sterben zu allen Zeiten., Dabei geht es selten gerecht zu, und es ist nie der richtige Zeitpunkt. Aber Sterben und Leiden übelster Art gehört in dieser Welt dazu. Das würde ich als Privatmann nie sagen, aber das ist meine Einsatzerfahrung, die hilft, das auszuhalten.
Können Sie sich an einen Einsatz erinnern, der Sie trotzdem richtig mitgenommen hat?
Tina Wilking-Paulinsky: Ja. Ein 14-jähriger Junge hatte damals noch versucht, seine Mutter zu reanimieren. Es war niemand da, der sich um ihn kümmern konnte. Der Junge wollte an sein Handy, um den Vater anzurufen, zu dem er eigentlich keinen Kontakt hatte. Dafür musste er durch den Flur, in dem seine Mutter noch vom Rettungsdienst reanimiert wurde. Das war der einzige Fall, bei dem ich nachher auf der Beerdigung der Frau war.
Wie lange bleiben sie bei den Menschen?
Hans Zabel: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn es schnell geht, 20 Minuten. Meistens sind es anderthalb bis zwei Stunden.
Der Einsatz ist für Sie beendet. Was machen Sie, wenn Sie gehen können?
Tina Wilking-Paulinsky: Vielleicht sollte ich das nicht verraten, aber wenn wir zu zweit unterwegs waren, fahre ich immer zu McDonalds. Da reden wir nochmal. Sonst gehe ich mit den Hunden raus.
Hans Zabel: Als erstes schreibe ich das Protokoll. Ich drehe dann eine Runde um den Block, das ist nachts manchmal etwas ungewöhnlich, aber schlafen könnte ich ohnehin nicht sofort.
Einfluss aufs Privatleben
Wie sehr beeinflusst das Ehrenamt in der Notfallseelsorge Berufs- und Privatleben?
Tina Wilking-Paulinsky: Ich habe Menschen um mich, die Verständnis haben. Das Bereitschaftshandy darf ich auch mal mit auf die Arbeit nehmen. Mittlerweile bin ich auch bei Nachtschichten entspannt.
Hajo Witte: Am Tag der Rufbereitschaft ist der Bewegungsspielraum eingeschränkt. Um unsere Ausrückzeiten einzuhalten, muss sich die diensthabende Person im Bereich Herne aufhalten. Und man sollte nur Dinge tun, die man von jetzt auf gleich liegen lassen kann.
Lebens- und Krisenerfahrung
Was muss man als Notfallseelsorger können?
Tina Wilking-Paulinsky: Man muss zuhören können und viel aushalten können. Man muss auch auf Menschen zugehen können und sollte einfühlsam sein.
Hajo Witte: Die Frauen und Männer, die sich bei uns bewerben, sollten Lebens- und Krisenerfahrung haben und belastbar sein. Sie sollten die Fähigkeit mitbringen oder in der Ausbildung erwerben, das Leid anderer Menschen aushalten zu können, um Menschen nach plötzlichem Tod eines nahen Angehörigen beistehen zu können. Schweigen aushalten, Fragen beantworten und ganz langsam begreifen, was geschehen ist.